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Bonner Entscheidungsprozesse : Als sich Helmut Kohl noch beraten ließ

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Bundeskanzler Helmut Kohl während der Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag in Bonn am 28. November 1989. Bild: dpa

Helmut Kohls innerparteiliches Frühwarnsystem basierte darauf, Personen und Strömungen in- und auswendig zu kennen. Bis tief in Kreis- und Ortsverbände der CDU hatte er Gefolgsleute sitzen.

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          Regieren heißt entscheiden, hundertfach tagtäglich. Wer Macht ausübt, wird dazu gezwungen, in Kenntnis oder Unkenntnis komplexer Sachlagen und ihrer Folgen. Machiavelli behauptete, das Urteil über den „Fürsten“ hänge maßgeblich vom Sachverstand der Berater ab, denn sie bestimmten die Qualität seiner Politik. Schon bevor Angela Merkel Bundeskanzlerin wird, ist sie sich dessen bewusst. Beratung im Politikbetrieb sei ein schmaler Grat und verliere ihren Sinn, wenn der Regierungschef unfähig werde, noch selbst entscheiden zu können, schrieb sie 2004.

          Jeder Spitzenpolitiker steht in der Gefahr, von Interessen, Eitelkeiten und Rankünen vereinnahmt zu werden. Selektion und Kanalisierung der Informationsflut, was der Regierende wissen muss, erzeugt stets ein Nadelöhr. Nur der autonome Erwerb vielfältigster externer Auskünfte garantiert Machthabern eine gewisse Unabhängigkeit von engen Vertrauten, untergebenen Bürokratien und skurrilen Einflüsterungen. Gerade in liberalen Demokratien müssen die - Politiker zuhauf umkreisenden - Berater- und Sachverständigengremien kritisch hinterfragt werden. Denn sie üben ohne jegliche demokratische Legitimation Einfluss aus. Das gilt im Besonderen auf Regierungschefs, die bei der Entscheidungsfindung auf Menschen ihres Vertrauens zurückgreifen, aber nicht auf sie angewiesen sein dürfen.

          Am Beispiel von Helmut Kohl untersucht Georg Milde die Regierungspraxis des Landespolitikers, Oppositionsführers und Bundeskanzlers. Er kontrastiert Machiavellis Ratschläge für weises Regieren zum Machterhalt mit den Strukturen, Gewohnheiten und Regeln Kohls bei der Auswahl engster Zuarbeiter, der Zusammensetzung von Beratungszirkeln und der strategischen Nutzung von Ressourcen in Partei- und Regierungsämtern. Wem vertraut er? Wen fragt er um Rat? Welcher Kanäle bedient er sich, um an Informationen zu gelangen, die ihm Wissensvorsprung verschaffen, Machtkontrolle ermöglicht und ihn von Beratern unabhängig macht? Offenbar entsteht das „System Kohl“ nicht aus einem Guss, sondern entwickelt sich über Jahre hinweg.

          Der junge Parteirebell baut sich schrittweise eigene Netzwerke auf, in der CDU, die er für „verbonzt“ hält, aber auch gesellschaftlich. Er schart eine kleine, zuverlässige Clique um sich, die politisch etwas bewegen, die Partei erneuern will. Dazu gehören vertraute Kampfgefährten wie Heinz Schwarz, Hanns Schreiner, Heinrich Holkenbrink, der alte Studienfreund Bernhard Vogel und einige andere, die sich oft nach Deidesheim und Maria Laach zurückziehen. Als engste Mitarbeiter des Ministerpräsidenten Kohl kommen die Sekretärin Juliane Weber, vom RCDS Horst Teltschik und alsbald Wolfgang Bergsdorf hinzu. Gleichwohl bleibt der Kreis mit direktem Zugang zu ihm stets klein, maximal 10 bis 15 Personen. Daneben sucht er Rat im privaten Umfeld in Oggersheim, bei den Brüdern Fritz und Erich Ramstetter, und in Kontakten zu Bürgern. Sie sollen ihn vor Entfremdung, dem Verlust der Bodenhaftung, bewahren. Solche menschliche Nähe braucht Kohl als Mittel zur Abwehr von Einsamkeit im Amt. In Mainz ist er Alleinherrscher, loyal unterstützt von Kabinett, Fraktion und Landespartei. Führung betreibt er auf breiter Ebene, kanalisiert Konflikte durch Diskussionen, schaltet sich ein, wenn Entscheidungen heranreifen. Jasager verabscheut er, lässt sich lieber problemorientiert von kompetenten Mitarbeitern aus der Bürokratie beraten, ungeachtet ihrer Position in der Hierarchie. In kleiner Runde oder unter vier Augen hört er sich andere Meinungen an, entscheidet nach Ratio und politischem Bauchgefühl, das bei ihm ausgeprägt ist. Von Beratungsresistenz also keine Spur.

          Nachdem Kohl 1973 Parteichef wird, besetzt er die CDU-Bundesgeschäftsstelle sukzessiv mit Vertrauensleuten. Sie sollen aus der CDU eine moderne Volkspartei machen. Sein innerparteiliches Frühwarnsystem basiert darauf, Personen und Strömungen in- und auswendig zu kennen. Bis tief in Kreis- und Ortsverbände hat er Gefolgsleute sitzen. Wenn es brennt, ruft er selbst an. Das stärkt deren Stellung und Ego, ihm garantiert es Treue, denn der Parteichef persönlich kümmerte sich ebenso um Lokales. Als Oppositionsführer in Bonn bereitet er die Partei auf ihre künftige Regierungsaufgabe vor. Seinen Führungsstil überträgt er auf die Bundespolitik. An der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion etabliert er ein Küchenkabinett mit den Vertrauten Teltschik, Bergsdorf, Weber und dem Pressesprecher Eduard Ackermann. Diese Kerntruppe bietet ihm im engsten Umfeld die gewohnte Nestwärme und zieht 1982 mit ins Kanzleramt ein.

          In täglichen Morgenlagen wird Neues, Kritisches und Abzuarbeitendes besprochen. Die Position des Parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktion entpuppt sich zur Keimzelle der eigenen Elitenrekrutierung. Philipp Jenninger, Wolfgang Schäuble, Dorothee Wilms, Rudolf Seiters, später Friedrich Bohl und Jürgen Rüttgers, verdienen sich hier ihre Sporen für künftige Staats- und Ministerämter. Doch lässt sich die Bundestagsfraktion im Kampf mit Franz Josef Strauß um die Kanzlerschaft viel schwerer in Griff kriegen als folgsame Landtagsabgeordnete. Zudem gelingt es Kohl nur bedingt, über den CDU-Generalsekretär die Partei zu kontrollieren. Je mehr Kurt Biedenkopf eigene Machtansprüche stellt, desto weniger klappt die Zusammenarbeit. Heiner Geißler fügt sich zunächst. Doch die Spannungen zwischen Parteiapparat und Regierung wachsen, bis Kohl ihn abserviert und damit dem „Putschversuch“ auf dem Bremer Parteitag 1989 den Boden entzieht. Um sich ein eigenständiges Urteil zu bewahren, setzt Kohl auf zahlreiche Kontakte zu Ratgebern von außen und lässt entsprechende Kreise einberufen. Er nutzt die vertraulichen Gesprächsrunden, oft im Kanzlerbungalow, mit bekannten Professoren, Wirtschaftskapitänen und Bankern, handverlesenen Journalisten, Kirchenvertretern und selten bekanntgewordene Treffen mit Intellektuellen als Stimmungsbarometer, um andere Ansichten zu erfahren und neue politische Projekte zu ventilieren. Kohl kann zuhören, hakt gerne nach, nimmt Hinweise auf. Verwaltungsdetails interessieren ihn nicht. Ihm geht es um die großen Linien der Politik, um das Grundsätzliche.

          Je länger er regiert, desto mehr verbreitet sich das Image, Kohl sei beratungsresistent, zögere Entscheidungen hinaus, sitze Probleme einfach aus. Nicht nur seine Skepsis gegenüber Apparaten wächst, auch die Beratungsoffenheit schwindet. Nach der Wiedervereinigung 1990 und seiner Wiederwahl vollzieht sich ein spürbarer Wandel. Das „System“ ist perfektioniert, alles auf Kohl abgestellt, die Spannung des Machtkampfes fehlt. Aufbruchstimmung und Gestaltungsfreude früherer Jahre sind dem Alltäglichen gewichen. Der innere Kreis der Verschworenen bricht allmählich weg und hinterlässt kaum aufzuwiegende Qualitätsverluste. Enge Vertraute wechseln in die Wirtschaft, auf Botschafterposten oder setzen sich zur Ruhe. Die CDU-Bundesgeschäftsstelle bildet keinen Gegenpol mehr, sondern eher eine nachgeordnete Behörde.

          Milde belegt, wie Kohl intuitiv Prinzipien Machiavellis befolgt. Rat nicht zu schnell übernehmen, alternative Optionen in Konkurrenz produzieren lassen, eigene Ansichten notfalls revidieren und Meinungsänderung in Kontinuität zur eigenen Politik bringen, das beherrscht Kohl aus dem Effeff. Er sorgt für seine Leute, erwartet dafür absolute Loyalität und Solidarität. So behält er nach außen die Deutungshoheit, bleibt unabhängig und sichert seine Macht. Milde nennt es die „Methode Kohl“. Die Studie beschreibt vorbildlich Strukturen und Personalpolitik, verknüpft aber nur vereinzelt damit politische Sachfragen wie bei der Entstehung des Zehn-Punkte-Programms. Ausgeblendet bleibt der Umgang mit Finanzmitteln. Dies aber gehört dazu, um alle Facetten des „System Kohl“ zu erfassen.

          Georg Milde: Entscheidungsprozesse von Spitzenpolitikern. Wie Helmut Kohl Beratung nutzte und Fremdbestimmung verhinderte. Quadriga Media Berlin GmbH, Berlin 2016. 624 S., 34,90 €.

          Dem Bundeskanzler ging es in den achtziger Jahren um die großen Linien der Politik, um das Grundsätzliche.

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