Analysen für den Geheimdienst : Hoffnung auf ein besseres Deutschland
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Straßenschild in Frankfurt Bild: Helmut Fricke
In seiner Ausarbeitung vom Herbst 1944 warnt Franz Neumann davor, den Überlegungen von Finanzminister Morgenthau Jr. zu folgen. Die Zerstörung der deutschen Industrie würde „soziale und ökonomische Spannungen verursachen, die zu sozialen Unruhen führen würden“.
So sie keine Abenteurer sind oder dringend Geld brauchen, haben herausragende Intellektuelle nur selten den Ehrgeiz, sich den Kopf für einen geheimen Nachrichtendienst zu zerbrechen. Dazu bedarf es schon besonderer Umstände. Der deutsche „Amoklauf gegen alles, was Menschen bindet und sittigt“ (Thomas Mann) war ein solcher Anlass. Es waren keine Geringeren als Otto Kirchheimer, Herbert Marcuse und Franz Neumann, die sich mitten im Zweiten Weltkrieg in den Dienst des „Office of Strategic Services“ (OSS) stellten und damit die Analysefähigkeit des amerikanischen Geheimdienstes zu Dunkeldeutschland sprunghaft steigerten. Die vor Hitler geflohenen jüdischen Intellektuellen wussten als Mitglieder von Max Horkheimers legendärem Frankfurter „Institut für Sozialforschung“ (das nach 1933 in New York weitergeführt wurde) genau, worüber sie schrieben.
Kirchheimer, ein Linksintellektueller, der bei Carl Schmitt promoviert hatte, kam von der Philosophie und den Sozialwissenschaften her. Er erlebte den Höhepunkt seiner Karriere erst nach seinem geheimdienstlichen Engagement als Professor für Politische Wissenschaften an der Columbia University. Die 1961 erschienene Studie über „Politische Justiz“ ist sein bekanntestes Werk. Der während der Studentenrevolte der sechziger Jahre als deren geistiger Übervater berühmt gewordene Marcuse, ursprünglich Philosoph aus der Schule von Heidegger und Husserl, blieb nach Kriegsende und Auflösung des OSS ebenso wie Kirchheimer noch einige Jahre als Analytiker im amerikanischen Außenministerium. Dort befasste sich der Marxist mit der kommunistischen Gesellschaftsentwicklung. Neumann begründete seinen Weltruf mit einer der tiefgehendsten Untersuchungen des NS-Herrschaftssystems überhaupt, dem 1942 in Erstfassung veröffentlichten Werk „Behemoth“. Bis zum Ende der Weimarer Republik war der Jurist für die Gewerkschaften und die SPD tätig gewesen. Später, als Professor für Politische Wissenschaften ebenfalls an der Columbia University, gehört er zu den Gründervätern der Freien Universität Berlin von 1948.
Die drei deutschen Emigranten befanden sich in der Analyseabteilung des CIA-Vorläufers, die damals mit über 1200 Mitarbeitern die größte amerikanische Forschungseinrichtung gewesen ist, in bester Gesellschaft. Felix Gilbert, Walter Rostow, Arthur Schlesinger jr. oder Talcott Parsons waren dort beispielsweise ihre Kollegen. Die Deutschland-Berichte der „Neumann-Gruppe“ in der Research and Analysis Branch des OSS sind seit 40 Jahren zugänglich und in großen Teilen auch ediert, doch erst jetzt konnte die Identifizierung derjenigen anonym verfassten Studien abgeschlossen werden, die aus der Feder der drei prominenten Vertreter der „Frankfurter Schule“ stammen. 31 Berichte aus der Zeit von 1943 bis 1949 sind nun in voller Länge nachzulesen. Von den sieben Themenfeldern widmet sich eines der „Feindanalyse“, ein anderes ist mit „Entnazifizierung und Militärregierung“ überschrieben; es geht um „Ein neues Deutschland in einem neuen Europa“ oder unter dem Rubrum „Ein neuer Feind“ um den Weltkommunismus. Die seinerzeit in mittelmäßigem Englisch verfassten Studien wurden in die Muttersprache der Gelehrten rückübertragen.
Wo man die auf mehr als 700 Druckseiten entfalteten Expertisen auch aufschlägt, man liest sich fest. Mit ihrer enormen Sachkenntnis, ihrer analytischen Kraft und gedanklichen Klarheit bestechen sie durchweg - auch wenn nach siebzig Jahren Forschung manches selbstverständlich anders zu sehen ist. Zeitgenössisch waren die Untersuchungen der Gipfel des Wissens über den Feind und nützliche Handlungsempfehlungen für den Umgang mit einer ausgebrannten Nation.