Jurij Dmitrijew : Opfer des Großangriffs
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Jurij Dmitrijew Bild: REUTERS
Die Vorwürfe erschienen selbst offiziellen Gutachtern abwegig. Aber Russlands Justiz schickt Jurij Dmitrijew für 15 Jahre ins Lager. Das Verfahren ist Teil eines Großangriffs auf die Organisation Memorial.
Wer in Russland Stalins Opfern nachspürt, wer die Erinnerung an sie wachhalten will, hat schnell mächtige Feinde. Mit Blick auf die Entscheidung des Obersten Gerichts vom Dienstag, Memorial International aufzulösen, wirken die Prozesse gegen Jurij Dmitrijew, den Leiter des Ablegers der Menschenrechtsorganisation in Karelien, wie ein Vorspiel zum aktuellen Großangriff auf die Wächter der Erinnerung und auf Russlands kleine Zivilgesellschaft. Von Anfang an ging es darum, nicht nur Dmitrijew, den Entdecker und Erforscher von Massenerschießungsstätten, gleichsam außer Gefecht zu setzen, sondern auch, seinen auch in Polen, der Ukraine und den baltischen Staaten bekannten Namen zu beschmutzen. Auch Vertreter dieser Länder, deren Landsleute ebenfalls unter Stalin ermordet wurden, kamen zum jährlichen Gedenktag Anfang August nach Sandarmoch, die wichtigste von Dmitrijew entdeckte Hinrichtungsstätte.
Zwar war der Prozess, der am Montag zu Ende ging, schon der dritte gegen den 65 Jahre alten Historiker. Doch im Kern ging es stets um Vorwürfe, Dmitrijew habe seine Adoptivtochter missbraucht. Der Historiker, der selbst der Misere russischer Kinderheime durch Adoption entkommen war, hatte Fotos gemacht, um sich gegen Behördenvorwürfe zu wappnen, das Kind werde vernachlässigt. Daraus wurden Pornographie- und Unzuchtsvorwürfe konstruiert. 2018 wurde Dmitrijew von diesen Vorwürfen freigesprochen, nur wegen illegalen Waffenbesitzes zu Freiheitseinschränkungen verurteilt. Nach wenigen Monaten kam Dmitrijew wieder in Haft, im Juli 2020 erhielt er in einem neuen Prozess trotz neuerlichen weitgehenden Freispruchs dreieinhalb Jahre Haft, aus denen im September 13 und am Montag nun 15 Jahre strenger Lagerhaft wurden, nun auch wegen sexueller Gewalt. Als Letztere gilt laut „Nowaja Gaseta“, dass Dmitrijew die Adoptivtochter, die im Alter von acht Jahren erwiesenermaßen an Bettnässen gelitten habe, im Leistenbereich berührt habe, um zu prüfen, ob die Unterwäsche trocken war. Ein Gutachten, laut dem die Ermittler dem Mädchen unter Druck die nötigen Antworten gegen seinen Vater abgenommen hatten, half nichts. Zudem fielen laut der unabhängigen Zeitung die „Erfolge“ der Ermittler gegen Dmitrijew zusammen mit Karrieresprüngen des früheren Leiters des Geheimdiensts FSB in Karelien. Mitstreiter und Unterstützer sind überzeugt, dass die Geheimdienstler, die sich als stolze Erben von Stalins Schergen sehen, den Historiker aus dem Weg räumen wollen. Dafür sprechen auch Versuche des Machtapparats, die Hingerichteten von Sandarmoch zu Opfern der Finnen im Zweiten Weltkrieg umzudeuten.