Treffen Europäischer Rabbiner : „Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden“
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Antisemitische Vorfälle sind in Europa in den vergangenen Jahren häufiger geworden. Bild: dpa
Derzeit treffen sich in Antwerpen mehr als 500 jüdische Geistliche aus allen Teilen Europas. Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt zeigt sich im Interview besorgt über die Sicherheit europäischer Juden – und kritisiert die Rolle der sozialen Medien.
Herr Oberrabbiner Goldschmidt, wieso wird es immer schwieriger, Jude in Europa zu sein?
Das hat mit den generellen Turbulenzen in Europa zu tun und mit populistischer Politik, welche die Religionsfreiheit mehr und mehr einschränkt. Die Zahl der Juden in Europa ist in den vergangenen Jahren von zwei auf 1,6 Millionen gesunken. Wir haben zwar viele europäische Politiker, die sagen, dass ein Europa ohne Juden kein Europa sei. Aber wenn es um den Alltag, um das Leben und Überleben, die Frage der Sicherheit, der Religionsfreiheit oder den Kampf gegen Antisemitismus geht – dann wird wenig gemacht.
Inwiefern sehen Sie die Sicherheit der jüdischen Gemeinde gefährdet?
Für die jüdischen Institutionen ist die Lage besser geworden. Viele Regierungen in Europa unterstützen die Gemeinden finanziell, besonders Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Wenn wir von der Sicherheit des Einzelnen sprechen, zum Beispiel der eines jüdischen Kindes, das mit seiner Kippa in Berlin oder in Paris durch die Straßen läuft, dann ist das anders. Für die individuelle Sicherheit müssen die Regierungen einen stärkeren Beitrag leisten.
In jüngster Zeit wurde häufiger der Vorwurf laut, dass neue Gesetze das jüdische Leben einschränkten – um welche Gesetze geht es da konkret?
Wir reden hier zum einen von Gesetzesentwürfen gegen die Beschneidung. In Deutschland gab es die Beschneidungsdebatte schon 2012 und 2013. In diesem Jahr hat sich die Debatte auf Island und Skandinavien verlagert. Debattiert wird auch über das Verbot von religiösen Schlachtungen, das sogenannte Schächten, also die Vorbereitung des koscheren Fleisches. Das ist in zwei Regionen in Belgien verboten worden und auch einer der Gründe, weshalb wir beschlossen haben, hier in Antwerpen unsere diesjährige Generalversammlung zu halten.
Sie haben in einem früheren Interview die kommende Europawahl als „Schicksalswahl“ bezeichnet – wieso?
Wir stehen hier nun 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Schoa. Wir haben Angst, dass wir Europäer vergessen haben, wie es ist, ohne eine Europäische Union, oder ihre Werte zu leben. Man vergisst die Vergangenheit, man glaubt nicht an die Zukunft, man lebt nur in der Gegenwart. Das ist eine sehr große Gefahr. Genauso wie das weitere Erstarken von Populismus und Nationalismus. Deshalb haben wir unsere Gemeindemitglieder auch aufgerufen, an der Europawahl teilzunehmen.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat gesagt, dass er die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 auch dafür nutzen möchte, stärker gegen Judenfeindlichkeit und Antisemitismus vorzugehen. Was muss Ihrer Meinung nach noch getan werden?
Ich glaube, dass Europa – und ich hoffe auch Deutschland – eine Führungsrolle übernehmen muss, um den Antisemitismus zu stoppen. Über die sozialen Medien ist er erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa wieder salonfähig geworden. Facebook zum Beispiel verfügt über zwei Milliarden Nutzer und gerade 5700 Mitarbeiter, die sich um das Monitoring von Rassismus und Extremismus auf der ganzen Welt kümmern. Sind ein paar tausend Angestellte wirklich genug, um das Nutzungsverhalten von zwei Milliarden Nutzern zu überprüfen?
Hintergrund
In der belgischen Stadt Antwerpen findet vom 13. bis 15. Mai die Konferenz der Europäischen Rabbiner (CER) statt. Es werden mehr als 500 jüdische Geistliche aus allen Teilen Europas erwartet. Die offizielle Überschrift der 31. Generalversammlung lautet in diesem Jahr „Tora und Tradition angesichts der aktuellen Herausforderungen“. Geleitet wird sie vom Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, seit 2011 Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner. (croc.)