Gastbeitrag zu Atomwaffen : Das dritte Nuklearzeitalter
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Sterben ohne Chance aufs Entkommen: 18.000 Meter hohe pilzförmige Rauchwolke über der Stadt Nagasaki Bild: dpa
Die nukleare Weltordnung schien nach dem Ende des Kalten Krieges in einen relativ stabilen Zustand übergegangen zu sein. Doch dem ist nicht so. Der Schuldige an der neuerlichen Erschütterung ist klar: Russland. Ein Gastbeitrag.
Die Einteilung historischer Zeiträume in Epochen ist ein schwieriges Unterfangen, nicht zuletzt, weil sie von den Zeitgenossen nur selten als neue Zeitalter erkannt werden. Dass mit den Explosionen in Hiroshima und Nagasaki eine Ära beginnen sollte, in der Kernwaffen zu einer zentralen Machtwährung im Ost-West-Konflikt aufsteigen, hatte 1945 wohl kaum jemand geahnt. Stattdessen galten Kernwaffen bei den amerikanischen Militärs eher als eine vielfach verstärkte Artillerie, mit der sich „more bang for the buck“ – also mehr Zerstörung fürs Geld – erzielen lasse. Erst mit der Kuba-Krise im Jahr 1962 begriffen die Akteure in Washington und Moskau, dass der Einsatz von Atomwaffen das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Die Logik der nuklearen Abschreckung nahm Gestalt an: Kein noch so großer Gewinn, den sich ein Aggressor erhoffen könnte, würde den unermesslichen Schaden ausgleichen können, der ihm durch die nukleare Vergeltung des Gegners zugefügt würde. In einem Atomkrieg könne es keine Sieger, sondern nur Verlierer geben.
Damit gewannen die nuklearen Arsenale auf beiden Seiten die Fähigkeit, durch wechselseitige Abschreckung mäßigend auf die politischen Entscheidungen in Ost und West zu wirken. Sie veränderten das Kosten-Nutzen-Kalkül eines potentiellen Angreifers, indem sie ihm die Gefahren seines Handelns drastisch vor Augen führten. Der Nichtgebrauch von Kernwaffen wurde somit zum erklärten Ziel beider Supermächte. Gleichzeitig musste ein Kernwaffeneinsatz – und hier liegt eines der grundlegenden Dilemmas – eine reale Möglichkeit darstellen, um einen glaubwürdigen politischen Abschreckungseffekt erzielen zu können. Das bedeutet, dass Kernwaffen einsetzbar sein müssen, um nicht eingesetzt zu werden. Dieser immanente Widerspruch im Konzept der nuklearen Abschreckung ist seit je der Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln.
Allerdings verhinderte die wechselseitig gesicherte nukleare Zerstörung nicht nur den nuklearen Schlagabtausch, sondern auch einen konventionellen Krieg zwischen den beiden Blöcken. Da jede militärische Auseinandersetzung immer die Gefahr des Aufschaukelns hin zum Atomkrieg bedeutet hätte, war der Zwang zur Zurückhaltung im Krisenfall offensichtlich: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Stattdessen führte man Stellvertreterkriege oder trug den Systemgegensatz über den Rüstungswettlauf aus. Sobald eine Krise aber nukleares Eskalationspotential bot, regierte die Vorsicht. Die westlichen Nichtreaktionen auf den Mauerbau in Berlin oder auf die Niederschlagung des Aufstands in der ČSSR sind konkrete Beispiele.
Kein nuklearer Holocaust
Einige Beobachter glaubten sogar ein „nukleares Tabu“ zu erkennen, das sich in den Ost-West-Beziehungen zunehmend etablieren würde. Je länger Kernwaffen nicht zum Einsatz kämen, desto größer würde der Widerwille auf beiden Seiten, die nukleare Schwelle jemals zu überschreiten und die nukleare Büchse der Pandora überhaupt zu öffnen. Ein Gebrauch von Kernwaffen würde damit im Verlauf der Zeit faktisch unmöglich. Andere taten solche Überlegungen allerdings als akademische Fingerübungen ab. In extremen Krisen würden Entscheidungsträger sich vielmehr nach ihrer eigenen Wahrnehmung und den unmittelbaren Zwängen richten und weniger nach langjährigen Verhaltensweisen.
So ging mit dem Fall der Berliner Mauer das erste Nuklearzeitalter zu Ende, ohne dass es zum oft prognostizierten nuklearen Holocaust kam. Dass aber mit dem Ende des Kalten Krieges auch gleich eine neue nukleare Epoche begonnen haben sollte, war zunächst wenig erkennbar. Der Bestand an Kernwaffen wurde zwar gerade auf westlicher Seite erheblich reduziert, mit Blick auf die Funktion der verbleibenden Arsenale verharrte man aber eher in klassischen Denkmustern. Kernwaffen galten vor allem als Rückversicherung, falls es zu einer Rekonstitution sowjetischer/russischer Macht kommen sollte. Nur wenige Experten machten sich Gedanken, worin denn der Zweck von Kernwaffen in einem künftig angestrebten partnerschaftlichen Verhältnis mit Russland liegen sollte.
Nukleare Sprengsätze in der Hand von Terroristen
Einen ersten Vorgeschmack auf die neuen Herausforderungen des zweiten Nuklearzeitalters boten die Atomwaffentests Indiens und Pakistans im Jahr 1998. Damit waren zwei Staaten dem Club der Atommächte beigetreten, die nicht die Vereinigten Staaten oder Russland unmittelbar bedrohten, sondern deren Kernwaffen gegeneinander gerichtet waren. Darüber hinaus sah Indien sein Nuklearpotential auch als Abschreckung gegen China, während Peking wiederum sorgenvoll auf Moskau schielte. Abschreckung war auf einmal multilateral, statt nur auf zwei große Machtblöcke beschränkt zu sein. Aber wie sollte etwa eine Abschreckungslogik formuliert werden, welche Indien und Pakistan zur atomaren Zurückhaltung im Falle eines Konflikts zwingen würde? Könnten Moskau oder Washington Islamabad oder Neu-Delhi wirklich mit der atomaren Vernichtung drohen, falls einer von beiden die nukleare Schwelle überschreiten sollte und Kernwaffen gegen den Nachbarn einsetzte?
Noch offensichtlicher wurde der Epochenwechsel drei Jahre später mit den Anschlägen des 11. September 2001. Statt feindlicher Regierungen waren plötzlich islamistische Gewalttäter in der Lage, Massenmord zu verüben und große Militärmächte zu demütigen. Gegen solche Gefahren erwiesen sich Atomwaffen als weitgehend nutzlos. Nichtstaatliche Akteure haben keine Adresse, gegen die eine nukleare Abschreckungsdrohung gerichtet werden kann. Auch versagt bei fanatisierten und zum Sterben bereiten Attentätern die klassische nukleare Abschreckungslogik, die auf einem wechselseitigen Überlebensinteresse beruht.
Stattdessen drohte ein anderes atomares Menetekel. Nukleare Sprengsätze in der Hand von Terroristen – ob als Kernwaffe oder als leichter herzustellende „Dirty Bomb“ (eine Mischung von konventionellem Sprengstoff mit strahlenden Substanzen) – schienen ein ideales Mittel für spektakuläre Anschläge. Falls die Idee des „nuklearen Tabus“ im Ost-West-Kontext jemals eine Bindewirkung gehabt haben sollte, so war sie mit dem Zusammenbruch der Twin Towers in New York ebenfalls kollabiert. Terroristen würden – ihrem Ziel folgend, Angst und Schrecken zu verbreiten – gerade auf den Tabubruch setzen, wenn sie denn in den Besitz eines atomaren Sprengsatzes gelangen könnten.
2014 als Beginn des dritten Nuklearzeitalters
Folglich ging es im zweiten Nuklearzeitalter nicht mehr nur um die Abschreckung von Nuklearstaaten, sondern auch um die Erkennung und Verhinderung möglicher terroristischer Angriffe – ob nuklear oder konventionell. Damit kam den Vertretern der Nachrichtendienste größere Bedeutung zu als den Nuklearstrategen des Kalten Krieges. Darüber hinaus wurden Konzepte entwickelt, um auch nach einer von Terroristen erzeugten nuklearen Explosion die Herkunft des verwendeten Spaltmaterials bestimmen zu können. Mit Hilfe der sogenannten nuklearen Forensik lässt sich allein aus der freigewordenen Strahlung noch die „nukleare DNA“ wie ein Fingerabdruck ablesen und dem Land zuordnen, das das Material produziert hat. Ließe sich dann auch noch belegen, dass dieses Ursprungsland das Kernwaffenmaterial bewusst weitergab, etwa um terroristische Ziele oder Gruppierungen gezielt zu unterstützen, könnten die Drahtzieher zur Rechenschaft gezogen werden.
Angesichts dieser immer komplizierteren Abschreckungs- und Gefahrenlage schien es manchem nahezu logisch, künftig auf Kernwaffen gänzlich verzichten zu wollen und das nukleare Element aus der internationalen Politik ein für alle Mal zu tilgen. Präsident Obamas Traum von der atomwaffenfreien Welt, den er 2009 in seiner Rede in Prag als politisches Ziel ver-kündete, spiegelte diese Grundhaltung wider. Obamas Konzept des „Global Zero“ traf zumindest in der westlichen Welt auf große Resonanz und wurde mit dem Friedensnobelpreis belohnt.
Künftige Historiker dürften 2014 als den Beginn des dritten Nuklearzeitalters datieren und die Epochenwende an der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland festmachen. Russland verließ damit endgültig die gesamteuropäische Sicherheitsordnung, kündigte die Partnerschaft mit der Nato auf und gebraucht seither sein gewaltiges Atomwaffenpotential (wieder) als Drohmittel gegenüber seinen Nachbarn. Mit den Überflügen seiner Nuklearbomber und simulierten Kernwaffeneinsätzen gegen Schweden und Polen markiert es seine vermeintlichen Einflusssphären und sendet eindeutige Drohsignale an die Nato. All dies sind nicht etwa Reaktionen auf ein vermeintliches Fehlverhalten von Nato und Europäischer Union, sondern bewusste Entscheidungen der politischen Führung in Moskau, um Russland wieder als einflussreiche Weltmacht zu etablieren.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor der Irrationalität
Bei der Frage, wie denn eine tragfähige Abschreckungsstrategie für dieses dritte Nuklearzeitalter auszusehen habe, könnte man versucht sein, die Erfahrungen der beiden Vorgänger-Epochen einfach zu verbinden – nukleare Abschreckung einer nuklearen Großmacht im Kalten Krieg, verknüpft mit den Ideen zur Abschreckung nichtstaatlicher oder irrationaler Akteure. Diese Lösung greift allerdings zu kurz, gibt es doch fundamentale Unterschiede zur Situation des damaligen Ost-West-Konflikts: War der einstige Warschauer Pakt der Nato bei den konventionellen Streitkräften teilweise überlegen, so ist das heutige Russland den Vereinigten Staaten und seinen Verbündeten konventionell klar unterlegen und ist sich dessen wohl bewusst. Seine militärischen Planungen für einen möglichen Konflikt in Europa sind deshalb darauf ausgerichtet, eine amerikanische Unterstützung für die Nato-Verbündeten zu verhindern und die Verlegung amerikanischer Streitkräfte über den Atlantik zu blockieren – im militärischen Jargon „A2/AD“ (Anti Access/Area Denial) genannt. Auch sieht Russland seine Atomwaffen als militärisch nutzbaren Ersatz für fehlende konventionelle Stärke.
Darüber hinaus ist mit Nordkorea ein weiterer Unsicherheitsfaktor der Irrationalität hinzugekommen. Zwar fand Pjöngjangs erster Kernwaffentest schon 2006 statt, lange war aber unklar, ob das Regime wirklich in der Lage sein wird, funktionsfähige Atomwaffen herzustellen. Dies scheint heute nach drei weiteren Atomversuchen 2009, 2013 und 2016 kaum noch bezweifelbar. Auch wenn die Erkenntnisse über den Stand des nordkoreanischen Kernwaffenprogramms nach wie vor lückenhaft sind, könnte Pjöngjang in wenigen Jahren über mehr Nuklearsprengköpfe verfügen als Frankreich oder Großbritannien. Dem nuklearen Club ist damit ein weitgehend unberechenbarer und von einer paranoiden Angst vor dem eigenen Machtverlust geplagter Akteur beigetreten.
Radioaktive Substanzen, Kernwaffenbauteile oder nukleares Expertenwissen
Dadurch stellt sich für die Rolle von Kernwaffen im dritten Nuklearzeitalter eine Reihe grundlegend neuer Fragen. Wie kann beispielsweise ein militärisch unterlegenes Russland abgeschreckt werden, das als eine Macht im Niedergang angesehen werden muss, weil es seinen globalen Geltungsanspruch nicht wirtschaftlich zu untermauern vermag? Dabei resultiert die russische Schwäche nicht nur aus den niedrigen Energiepreisen, sondern vor allem aus der jahrzehntelang versäumten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Modernisierung. Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland in einigen Jahren nicht mehr in der Lage sein wird, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung zu befriedigen, ist hoch, und die daraus resultierenden Instabilitäten sind besorgniserregend. Absteigende Mächte nuklear abzuschrecken ist grundsätzlich schwieriger, weil die Gefahr von Kurzschlussreaktionen oder irrationalem Handeln auf der unterlegenen Seite hoch ist. Das gilt in ähnlicher Form auch für Nordkorea, bei dem der Faktor der Irrationalität noch dramatisch stärker zu gewichten ist.
Auch stellt sich die Frage, ob es im dritten Nuklearzeitalter überhaupt noch vertraglich festgelegte nukleare Rüstungskontrolle geben wird. Wenn Russland seine Kernwaffen als nutzbaren Teil seiner Streitkräfte versteht, mit dem seine Schwächen bei den konventionellen Waffen ausgeglichen werden soll, so hat es wenig Interesse an der Reduzierung dieses Potentials. Bei den strategischen Atomwaffen der Vereinigten Staaten und Russlands mag es noch kleinere Verminderungen geben, weil einige veraltete Systeme ohnehin zur Ausmusterung anstehen. Allerdings will sich Moskau auch auf diesem Feld nicht mehr in die Karten schauen lassen. Im November 2014 erklärte Russland, nicht mehr an den jährlichen russisch-amerikanischen Gipfeltreffen zur Nuklearsicherheit teilnehmen zu wollen. Einen Monat später kündigte Russland den sogenannten Nunn-Lugar Act auf – bis dahin ein Pfeiler der bilateralen Kooperation zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit. Seit 1991 stellten die Vereinigten Staaten große finanzielle und materielle Hilfen für eine sichere Verschrottung überzähliger russischer Kernwaffen oder nuklearer U-Boote zur Verfügung. Mit diesem von den beiden amerikanischen Senatoren Sam Nunn und Richard Lugar entworfenen Programm sollte verhindert werden, dass radioaktive Substanzen, Kernwaffenbauteile oder nukleares Expertenwissen in die falschen Hände gelangte.
Abschreckungsstrategie mit einer tragfähigen Krisenkommunikation
Bei den sogenannten taktischen Atomwaffen in Europa gehen die Chancen für vertraglich vereinbarte Reduzierungen geradezu gegen null, weil Russland dieses Potential als einen aktiven Teil seiner Streitkräfte ansieht. Stattdessen gibt es Anzeichen, dass Russland den seit 1987 bestehenden Mittelstrecken-Vertrag (INF-Vertrag) durch neue Stationierungen unter-läuft. Umgekehrt gibt es auch auf Seiten der osteuropäischen Nato-Mitglieder wenig Interesse an einem Abzug der amerikanischen Kernwaffen aus Europa, werden diese doch als ein Symbol der amerikanischen Bündnisverpflichtungen gesehen.
Im asiatisch-pazifischen Raum stehen die Chancen für Abrüstung noch schlechter, weil ein aufstrebendes China die Spannungen in der Region erhöht und der Rüstungskontrollgedanke in den politischen Eliten ohnehin kaum verankert ist. Warum soll man Kernwaffenpotentiale abbauen, die man mit viel Geld und Mühen geschaffen hat? Auch fehlt den Staaten in der Region die traumatische Erfahrung einer Kuba-Krise, in der zwei Nuklearmächte in den Abgrund gegenseitiger Vernichtung schauten. Damit scheint die über Jahre hochgehaltene Idee von der nuklearwaffenfreien Welt, die durch guten Willen zur Abrüstung erreicht werden könne, endgültig vom Tisch. Nicht wenige Experten weisen allerdings darauf hin, dass der Vorstoß des amerikanischen Präsidenten ohnehin eine Illusion gewesen sei, die nur allzu gern geglaubt wurde, ohne dass je eine realistische Chance für ihre Umsetzung bestand.
Parteitag : Nordkorea beschließt Ausbau von Atomwaffen
Des Weiteren muss die Frage beantwortet werden, wie eine künftige Abschreckungsstrategie mit einer tragfähigen Krisenkommunikation ergänzt werden kann. Wenn Russland weiterhin als Drohmittel oder zur Markierung seines vermeintlichen Einflussbereichs Nuklearbomber aufsteigen lässt, atomare U-Boote in fremde Küstengewässer führt oder Kernwaffeneinsätze gegen Nachbarstaaten simuliert, dann steigt die Gefahr von Missverständnissen oder Unfällen. Allein 2014 wurden 14 riskante und hochriskante (also mit erheblicher Eskalationsgefahr versehene) Zwischenfälle zwischen russischen und westlichen Flugzeugen oder Schiffen registriert. Welche Sicherheitsvorkehrungen müssen etabliert werden, um einen ungewollten militärischen Schlagabtausch – ob konventionell oder gar nuklear – zu verhindern?
Abfangsysteme gegen Atomschläge
Ebenfalls offen ist die Frage, welche Auswirkungen die im Aufbau befindliche Raketenabwehr der Nato auf die Anforderungen an eine glaubwürdige nukleare Abschreckung haben wird. Seit Präsident Ronald Reagans Strategischer Verteidigungsinitiative SDI Anfang der achtziger Jahre gibt es weltweite Bemühungen, anfliegende Raketen abschießen und damit unschädlich machen zu können. Ebenso alt ist die Diskussion darüber, ob eine solche Abwehrmöglichkeit die Idee der Abschreckung – wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter – untergräbt und damit die internationale Stabilität gefährdet. Länder, denen es gelänge, einen vollständigen Abwehrschirm zu errichten, müssten die atomare Vergeltung nicht mehr fürchten und könnten ihrerseits andere Staaten aggressiv bedrohen.
Diese Diskussion schien lange von begrenzter Relevanz, weil eine wirklich funktionierende strategische Raketenabwehr nur schwer realisierbar schien – sie ist vergleichbar mit dem Versuch, eine Gewehrkugel mit einer Gewehrkugel abzuschießen. Mittlerweile sind solche Systeme aber Realität. Israel gelingt es mit seinem „Eisendom“ genannten Abwehrschirm, die Mehrzahl der Kurzstreckenraketen, die von Hamas-Kämpfern im Gazastreifen abgeschossen werden, zu erkennen und abzufangen, obwohl sich diese nur wenige Minuten in der Luft befinden. Auch die Nato beschafft schrittweise ein Abwehrsystem, das auf amerikanischen Abfangraketen beruht und bereits existierende Radars und Sensoren der europäischen Bündnispartner einbezieht.
Moskau hat seit langem geargwöhnt, dass eine solche Raketenabwehr letztlich gegen Russland gerichtet sei und das eigene Raketenpotential entwerten würde. Damit sei die strategische Stabilität in Gefahr. Die Nato wies stets darauf hin, dass eine Raketenabwehr ein genuin defensives Waffensystem sei, das erst dann zum Tragen komme, wenn der Gegner eine Angriffswaffe abgeschossen habe. Wer die Raketenabwehr als Idee grundsätzlich kritisiert, muss sich deshalb fragen lassen, ob er an einer Angriffsoption festhalten möchte. Auch können nukleare Sprengköpfe mit anderen Trägersystemen ins Ziel gebracht werden, die nicht von einer Raketenabwehr betroffen sind – etwa mit Flugzeugen oder Marschflugkörpern. Angesichts solcher Debatten ist der Zusammenhang zwischen der nuklearen Abschreckung und der Raketenabwehr offensichtlich und muss deshalb in die strategischen Überlegungen einfließen.
Kernwaffeneinsätze gegen Nachbarländer
Schließlich muss auch erörtert werden, wie die nukleare Zusammenarbeit der drei Nato-Kernwaffenmächte Amerika, Großbritannien und Frankreich verbessert werden kann, um eine kohärente Abschreckung zu entwickeln. Washington und London kooperieren seit je im Nuklearbereich. Großbritannien und Frankreich haben 2010 mit den sogenannten Lancaster-House-Abkommen ihre nukleare Zusammenarbeit erheblich ausgeweitet. Selbst Frankreich und die Vereinigten Staaten arbeiten diskret und punktuell immer wieder im Nuklearbereich zusammen. Was fehlt ist eine trilaterale Abstimmung, die über den gelegentlich stattfindenden Austausch über die bereits erwähnte nukleare Forensik hinausgeht. Frankreich schließt eine solche Kooperation offenbar nicht grundsätzlich aus, will diese aber nicht in den entsprechenden Gremien der Nato wie der Nuklearen Planungsgruppe stattfinden lassen.
Angesichts der geänderten nuklearen Realitäten und der Vielzahl offener Fragen wird die Nato das Thema der nuklearen Abschreckung wieder auf die Agenda setzen müssen. Zwar verfügt die Nato über eine gültige Nuklearstrategie, die in einem Dokument mit dem sperrigen Titel „Deterrence and Defence Posture Review“ festgehalten ist. Allerdings basiert dieses 2012 auf dem Nato-Gipfeltreffen in Chicago verabschiedete Papier auf zwei Grundannahmen, die heute nicht mehr gegeben sind: nämlich dass Russland ein Partner der Nato ist und seine Kernwaffen nicht gegen die Nato instrumentalisiert. Mittlerweile hat Moskau die Partnerschaft mit der Nato für beendet erklärt und simuliert darüber hinaus in militärischen Übungen Kernwaffeneinsätze gegen Nachbarländer. Das macht die Notwendigkeit einer Neuformulierung der Nato-Nuklearstrategie unumgänglich.
Nun wird sich aufgrund der Sensibilität des Themas in einigen Mitgliedsländern eine Einigkeit über die dringend erforderliche nukleare Strategiedebatte kaum bis zu dem im Juli 2016 anstehenden Nato-Gipfel in Warschau erzielen lassen. Nach diesem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Allianz muss die Nuklearfrage, wie man wen und womit abschreckt, aber auf den Tisch.
Die Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters
Das ist kein Grund für nuklearen Alarmismus. Nuklearwaffen werden auch angesichts der Spannungen mit Russland nicht den Wert zurückerlangen, den sie einst als Machtwährung im Kalten Krieg besaßen. Ihre Zahl ist in den vergangenen Jahrzehnten zumindest im amerikanisch-russischen Verhältnis dramatisch reduziert worden, und ein neuer nuklearer Rüs-tungswettlauf ist nicht zu erwarten. Auch ist die nukleare Abschreckung nur ein kleiner Teil des gesamten Spektrums militärischer Sicherheitsvorsorge. Leistungsfähige und glaubwürdige einsetzbare konventionelle Streitkräfte sowie die Bereitschaft zur Kooperation auch über existierende Differenzen hinweg sind für die Rückversicherung der Nato-Mitglieder und für die Stabilität in Europa deutlich wichtiger.
Deshalb geht es bei der anstehenden Nukleardebatte auch nicht um neue oder modernere Kernwaffen, sondern um eine kohärente politische Konzeption, die eigenen Ansprüchen genügt und die von einem potentiellen Gegner als glaubwürdig angesehen wird. Dazu gehören neben klaren politischen Aussagen auch Übungen und Simulationen, in denen Verfahren und nukleare Entscheidungsprozesse erprobt werden. Denn klar ist: Die Herausforderungen des dritten Nuklearzeitalters können nicht mit den Rezepten der beiden vorigen Epochen angegangen werden.