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Kommentar zur großen Koalition : Die Alchemisten

Alles geklärt vor Weihnachten: Die alte und künftige Kanzlerin Angela Merkel am Sonntagabend mit ihrem neuen Generalsekretär Peter Tauber Bild: Lüdecke, Matthias

Die Formel der großen Koalition ist endlich komplett. Doch bisher hat nur einer Gold aus Blei machen können: Sigmar Gabriel. Deutschland bekommt eine sozialdemokratisierte Politik mit bürgerlichem Antlitz. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte gewesen, wenn die SPD dazu nein gesagt hätte.

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          Chapeau, SPD! Die Partei hat am 22. September das zweitschlechteste Wahlergebnis ihrer Nachkriegsgeschichte eingefahren, doch wer redet noch davon? Seit der Wahl schien sich das politische Leben in Deutschland allein um die Sozialdemokratie zu drehen. Auch die Wahlsiegerin, die Union, hielt sich brav an die Regieanweisungen der SPD; sogar noch bei der Bekanntgabe der Ressortverteilung und der Minister ließ sie den Sozialdemokraten den Vortritt.

          Der Schachzug, die Beteiligung an der großen Koalition von einer Mitgliederbefragung abhängig zu machen, erwies sich als goldrichtig. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Gabriel hat viel gewagt und viel gewonnen. Mit der unwilligen „Basis“ im Rücken setzte die SPD-Führung in den Koalitionsverhandlungen weit mehr durch, als ihr schlechtes Abschneiden vermuten ließ. Gabriel hing das Damoklesschwert der Mitgliederbefragung aber nicht nur über der großen Koalition auf, sondern auch über seiner eigenen Partei. Ein Nein zum Koalitionsvertrag hätte die SPD enthauptet und für Jahre als regierungs- und bündnisunfähig gebrandmarkt. Ein neuer Höhepunkt der innerparteilichen Demokratie? Ja, aber der sanft gelenkten. Auch das muss man können. Aus fünfundzwanzig Prozent fünfundsiebzig zu machen, das grenzt an politische Alchemie. Gabriel hat seine demoralisierte Partei wiederaufgerichtet und führt sie nun erstaunlich geschlossen in die Koalition mit der Union. Wie lange das so bleibt, ist eine andere Frage. Doch jetzt ist Gabriel der Held der Stunde. Als Vizekanzler und „Superminister“ mit Zuständigkeit für die Energiewende verkehrt er „auf Augenhöhe“ mit der Kanzlerin. Stünde demnächst eine Bundestagswahl an, dann wäre er der Kanzlerkandidat. Und seine Partei immer noch die der Gleichheit und der „sozialen Gerechtigkeit“. Dafür sorgte die SPD, indem sie darauf bestand, die einschlägig beleumundeten Ressorts mit ihren Leuten zu besetzen.

          Beim Versuch, Silber in Gold zu verwandeln, kommt mitunter Blei heraus

          Im Verkaufen ihrer „Erfolge“ ist die CSU fast so gut wie die SPD. Nur mit dem Einfahren derselben tut sie sich schwerer. Beim Versuch, Silber in Gold zu verwandeln, kommt bei ihr mitunter Blei heraus. Für das Linsengericht der Maut hat sie in den Koalitionsverhandlungen alte Überzeugungen (am auffälligsten beim Staatsangehörigkeitsrecht) geopfert. Nun jubelt sie, dass ihr künftiger Verkehrsminister auch für die digitale Infrastruktur zuständig sein werde. Ein Zukunftsministerium! Doch nicht jedem ist entgangen, dass die CSU das weit wichtigere Innenministerium an die CDU abgeben musste. Dem bisherigen Amtsinhaber Friedrich bleibt anders als Ramsauer wenigstens das Austragshäusl des Landwirtschaftsministeriums. Auch die sensationelle Nummer drei auf Seehofers Erfolgsbilanz, die Zuständigkeit für die Entwicklungshilfe, mit der die CSU ihren weltpolitischen Anspruch unterstreicht, kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei im neuen Kabinett an Gewicht verloren hat.

          Die bisherige und künftige Bundeskanzlerin erträgt natürlich auch das mit Gleichmut. Sie überließ den Alchemisten Gabriel und Seehofer die Bühne in dem Wissen, dass der letzte Akt der ihre sein wird: ihre Wiederwahl an diesem Dienstag. Das große Spiel dieser großen Koalition, das sie gerne und gut spielt, beginnt für sie erst danach so richtig. Sie geht es mit der Gelassenheit einer Schwarzen Witwe an, die weiß, wie die Sache endet, sosehr der Bräutigam auch zappelt. Doch Merkel wäre nicht Merkel, wenn sie sich für ihre dritte Amtszeit, die angeblich ihre letzte sein soll, nicht gewappnet hätte. Zu ihrem Ersten Ritter schlug sie wieder Wolfgang Schäuble, der jederzeit das Schwert zücken kann, wenn die freigebige SPD bei dem Versuch, ihren Ruf als Wohltäterin der Nation zu mehren, zu tief in die Schatztruhe greifen will.

          Von der Leyen bestätigt ihr zugeschriebene Ambitionen

          Doch ist die Kanzlerin auch noch für Überraschungen gut. Mit der Berufung Ursula von der Leyens zur Verteidigungsministerin hat sie wenigstens zum Ende hin einmal den Gabriel-Festspielen die Schau stehlen und den Verlust ihres Kanzleramtsministers etwas übertünchen können. Das Wehrressort ist das Himmelfahrtskommando unter den Ministerien, im doppelten Sinne des Wortes: Man kann sich dort in die Luft sprengen, aber auch für Höheres empfehlen. Mit dem Einzug in den Bendlerblock bestätigt von der Leyen die ihr zugeschriebenen Ambitionen. Erste Bundespräsidentin wäre zwar auch nicht schlecht gewesen. Als erste Verteidigungsministerin kann sie aber auch noch die zweite Kanzlerin werden. Gabriel weiß somit schon, gegen wen er wahrscheinlich antreten müsste, wenn Merkel wirklich nicht mehr wollte.

          Doch jetzt muss diese Koalition erst einmal zeigen, was das Adjektiv „groß“ in ihrem Fall beschreibt. Das große Belauern? Den großen, bleiernen Stillstand? Oder doch noch große Taten? Die dritte Regierung Merkel könnte, auch wenn der Bundesrat das glatte „Durchregieren“ verhindert, der Republik ihren Stempel aufdrücken; damit ist natürlich nicht die Maut gemeint. Wahrscheinlicher aber ist, dass die Deutschen von dieser Regierung bekommen werden, was sie sich von ihr wünschen: eine sozialdemokratisierte Politik mit bürgerlichem Antlitz. Es wäre wirklich ein Treppenwitz der Geschichte gewesen, wenn die SPD-Mitglieder dazu nein gesagt hätten.

          Berthold Kohler
          Herausgeber.

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