Kampf um Slawjansk : Wo Kiews Einfluss endet
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Von einer humanitären Katastrophe ist nichts zu sehen: Checkpoint der ukrainischen Armee bei Slawjansk Bild: dpa
In Slawjansk kontrollieren bewaffnete Separatisten die Straßen. Inzwischen geben sie zu, dass sich auch Russen in ihren Reihen befinden. Dass sich in der Stadt eine humanitäre Katastrophe anbahnt, wie Moskau behauptet, lässt sich allerdings nicht feststellen. Ein Frontbericht.
Slawjansk, die Industriestadt im Osten der Ukraine, kündigt sich schon von weitem an. Weiß schimmernde Abraumhalden künden vom Salzabbau, einer der Lebensgrundlagen der Leute hier, zerfallende Fabriken mit leeren Fensterhöhlen erzählen vom Niedergang der chemischen Industrie aus Zeiten der untergegangenen Sowjetunion.
Am Montag aber ist die Gegenwart gewaltsam in Slawjansk eingebrochen: Die Stadt, die seit Wochen vom prorussischen „Volkssturm“ der selbstausgerufenen „Volksrepublik Donezk“ besetzt gehalten wird, ist an diesem Tag Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen den Aufständischen und ukrainischen Regierungseinheiten gewesen. Innenminister Awakow teilte mit, die Truppen der Regierung hätten vier Mann verloren, die Rebellen vermutlich dreißig. Ein mutmaßlicher Führer des „Volkssturms“, Myroslaw Rudenko, wurde von der Agentur Interfax mit der Aussage zitiert, man habe noch keinen genauen Überblick über die Verluste, aber vermutlich sei diese Zahl richtig.
Die Regierung in Moskau, die von der Ukraine und vom Westen beschuldigt wird, den Aufstand im Donbass verdeckt zu unterstützen, nutzte die Nachrichten aus Slawjansk sofort zu einer propagandistischen Attacke. Die „Strafaktion“ der prowestlichen Kiewer Regierung gegen Slawjansk, teilte das Außenministerium nach den Kämpfen mit, sei Teil einer „humanitären Katastrophe“ im „belagerten“ Slawjansk. In der Stadt herrsche „ganz klar Mangel an Medikamenten“ und erste „Unterbrechungen in der Lebensmittelversorgung“ würden sichtbar.
Fragt man die Soldaten der Ukrainischen Nationalgarde, die am Dienstag die Zufahrten der Stadt mit Schützenpanzern und gepanzerten Mannschaftswagen bewachten, ist an diesen Vorwürfen nichts dran. Ein Offizier, der anonym bleiben wollte, versicherte, seine Männer seien nur gehalten, den Verkehr nach Slawjansk hinein und wieder heraus zu „kontrollieren“, nicht aber, ihn zu unterbinden. Der Augenschein schien das zu bestätigen. An der Einfahrt in die Stadt hatte sich zwar am Dienstag eine lange Autoschlange gebildet, aber Lastwagen und sonstige Fahrzeuge wurden nach geschehener Kontrolle allesamt durchgelassen.
Kein Notstand
Allerdings hat auch am Dienstag der Einflussbereich des ukrainischen Staates schon einen Kilometer außerhalb von Slawjansk aufgehört. Am Stadtrand und im Inneren dominierten die Aufständischen uneingeschränkt. Haupt- und Nebenstraßen waren von einem dichten Netz von Barrikaden versperrt, die die Bewohner zwangen, mit ihren Autos Schleichwege durch Grünanlagen und Hinterhöfe zu nehmen. Die Besatzung der Sperren kontrollierte Fahrzeuge auf Waffen und verlangte von Journalisten, sich auszuweisen, schien aber nicht aggressiv. Viele Männer waren bewaffnet. Sie trugen russische Makarow-Pistolen, Kalaschnikow-Sturmgewehre und einmal wurde sogar ein offenbar historischer zweiläufiger Vorderlader in ihren Händen gesehen. Ein anderer Mann trug zum Trainingsanzug eine Panzerfaust. Zumindest dem Augenschein nach machten diese Kämpfer eher den Eindruck eines zusammengewürfelten Korps von Feierabend-Revolutionären, als den von professionellen Kämpfern, wie sie im Mai bei der russischen Besetzung der Krim im Einsatz waren.
Dennoch bestreiten selbst die Aufständischen mittlerweile nicht mehr, dass in ihren Reihen auch Russen kämpfen. Dmitrij Gau etwa, der Sprecher der separatistischen „Regierung“ der Region Donbass sagte in einem kurzen Interview, dass er der F.A.Z. im Kampfanzug, aber barfuß und mit Badeschlappen an den Füßen gewährte, möglicherweise befänden sich unter den Kämpfern des „Volkssturms“ tatsächlich auch Russen – viele Tausende in Russland unterstützten schließlich die Unabhängigkeitsbestrebungen des ukrainischen Ostens, und man könne sie schließlich nicht daran hindern, zu kommen und zu helfen.
Von der humanitären Katastrophe, die Moskau in Slawjansk heranziehen sieht, war am Dienstag allerdings noch nicht viel zu sehen. In manchen Läden herrschte zwar Brotmangel, und Verkäuferinnen sagten, zuletzt seien einige Lieferungen ausgeblieben. Allerdings waren die Theken und Regale mit Käse, Eiern, Wurstwaren, Nudeln und vielen weiteren Lebensmittel gut bestückt. Es gab kaum auffällige Schlangen, die auf Panikkäufe hingewiesen hätten.
Auch im Städtischen Krankenhaus „W. I. Lenin“ schien am Dienstag kein Notstand zu herrschen. Einer der diensthabenden Ärzte, Alexander Bespojasnij, der einen weißen Kittel mit Blutspuren trug, bestätigte zwar, dass er am Montag und Dienstag vier Verletzte behandelt habe, darunter einen mit einem Kopfschuss. Er wies aber darauf hin, dass sich bislang noch keine Versorgungsengpässe bei Medikamenten oder Spenderblut gezeigt hätten. Angeforderte Lieferungen kämen nach wie vor problemlos durch, von einer „humanitären Katastrophe“ könne aus seiner Sicht keine Rede sein. Die Zahl der Toten konnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung allerdings am Dienstag nicht verifizieren. Im Städtischen Leichenschauhaus verweigerte das Personal der Presse jede Auskunft. „Wir sagen nichts“, hieß es dort. „Schaut, dass ihr fortkommt.“