Zum Tod Thomas Schäfers : Von den Sorgen erdrückt?
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Weggefährten: Hessen Ministerpräsident Volker Bouffier und der verstorbene Finanzminister Thomas Schäfer. Bild: dpa
Es spricht so gut wie alles dagegen, dass es tatsächlich die Corona-Krise war, die den hessischen Finanzminister Thomas Schäfer in den Tod trieb.
Mit der Corona-Epidemie in Deutschland wird ein Satz in Verbindung bleiben, der am vergangenen Wochenende in aller Welt Beachtung fand: „Ich muss davon ausgehen, dass ihn diese Sorgen erdrückt haben“. Ein sichtlich ergriffener Volker Bouffier reagierte damit auf den Tod Thomas Schäfers, des hessischen Finanzministers, der sich am 28. März mutmaßlich das Leben genommen hatte. Schäfer war zugetraut worden, Bouffiers Nachfolger zu werden, einen guten hessischen Ministerpräsidenten abzugeben, ja, dass er auch auf Bundesebene eine größere Rolle spielen könnte.
Der CDU-Politiker deutete mit dem Satz wahrscheinlich den Inhalt des Briefs an, den Schäfer hinterlassen haben soll. Da bekannt geworden war, dass es diesen Brief gibt und darin das Stichwort Corona fällt, musste Bouffier darauf eingehen, um nicht Gerüchte ins Kraut schießen zu lassen. Sonst hätte es am Ende noch geheißen, die wahre Dramatik der Corona-Krise solle vertuscht werden (eine Partei, dessen Kürzel nicht genannt werden muss, griff den Tod Schäfers auch sogleich in diesem Sinne auf). Aber trifft dieses Stichwort wirklich den Kern?
Das Ausmaß der Corona-Krise ist in der Tat nicht zu verharmlosen. In einem vielzitierten Strategiepapier des Bundesinnenministeriums wurde für den schlimmsten Fall ein bis dahin für unsere Gesellschaft nicht gekannter „Abgrund“ vorhergesagt: der totale Zusammenbruch von Wirtschaft und Gesellschaft, wie er seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht dagewesen ist, bis hin zu Anarchie, Plünderungen und Gewaltausbrüchen. Der Druck auf Politiker, vom Landrat bis zur Kanzlerin, eine solche Katastrophe abzuwenden, ist seit Tagen und Wochen so groß, dass es durchaus plausibel und menschlich erscheint, dieser Last nicht standhalten zu können.
Hilfe bei Suizidgedanken
Wenn Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Es gibt eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie – auch anonym – mit anderen Menschen über Ihre Gedanken sprechen können.
Das geht telefonisch, im Chat, per Mail oder persönlich.
Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.
Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.
Ebenfalls von der Telefonseelsorge kommt das Angebot eines Hilfe-Chats. Die Anmeldung erfolgt auf der Website der Telefonseelsorge. Den Chatraum kann man auch ohne vereinbarten Termin betreten. Sollte kein Berater frei sein, klappt es in jedem Fall mit einem gebuchten Termin.
Das dritte Angebot der Telefonseelsorge ist die Möglichkeit der E-Mail-Beratung. Auf der Seite der Telefonseelsorge melden Sie sich an und können Ihre Nachrichten schreiben und Antworten der Berater lesen. So taucht der E-Mail-Verkehr nicht in Ihren normalen Postfächern auf.
Dennoch: Die Einschätzung des „worst-case“ aus dem Innenministerium in Berlin ist gut zwei Wochen alt. Für Gesprächsstoff unter Ministern und Beamten in Bund und Ländern wird dieses schlimmste Szenario schon früher gesorgt haben. Seither ist viel geschehen. Resultat waren unter anderem die drastischen Maßnahmen während und am Ende der Woche, aus dem das Papier stammt. Wichtigster Bestandteil dieser Maßnahmen waren das Kontaktverbot in allen Bundesländern, das am Wochenende vom 21./22. März ausgesprochen wurde.
Diese Beschränkungen zeigten erste positive Wirkungen schon vor Tagen, auch schon vor dem 28. März. Nicht Horrorszenarien, sondern Hoffnungen gaben seither den Ton an. Der „Abgrund“ war erst einmal abgewendet. Stattdessen ist ein Szenario viel wahrscheinlicher, das bei allen Unwägbarkeiten, die noch bleiben, keinen Anlass zur allgemeinen Verzweiflung bietet. Grund zum Optimismus gab es schon seit Tagen mit Blick auf China und Südkorea, wo sich die Infektionskurven dauerhaft abflachten.
Warum sollte Schäfer die Lage nicht realistisch eingeschätzt haben?
Es besteht kein Grund anzunehmen, dass einem Politiker wie Thomas Schäfer, der seit Jahren unter hohem Leistungsdruck erfolgreiche Politik gemacht hat, das alles entgangen und eine realistische Beurteilung der Lage völlig fremd gewesen sein soll. Wenn doch, liegt diese Fehleinschätzung nicht in der Krise selbst. Es ist unwahrscheinlich, dass Schäfer mehr wusste als alle anderen und deshalb annehmen musste, die Lage sei trotz aller Maßnahmen, die schon ergriffen wurden, aussichtslos.
Auf Schäfer lastete die Aufgabe der Krisenbewältigung zudem nicht allein. Das wäre selbst dann nicht der Fall, wenn er bald in die Staatskanzlei in Wiesbaden hätte wechseln sollen und durch die Aussicht auf diese Verantwortung „erdrückt“ worden wäre. Denn es gibt in Deutschland dann immer noch fünfzehn andere Bundesländer und eine Bundesregierung, die sich gegenseitig stützen und die Verantwortung teilen. Auch wenn es Schäfer in seinem Abschiedsbrief vielleicht anders darstellen wollte: Es spricht so gut wie alles dagegen, dass es tatsächlich die Corona-Krise war, die ihn „erdrückte“.
Warum „muss“ Volker Bouffier, wie er sagte, dennoch etwas anderes, nämlich gerade dies annehmen: dass es die Sorgen wegen der Corona-Krise waren, die Schäfer trieben? „Muss“ er nicht ganz andere Schlüsse ziehen? Warum musste auch Schäfers Nachfolger, Michael Boddenberg, der Schäfer gut kannte, in seiner ersten Stellungnahme als neuer Finanzminister Hessens genau in dieselbe Richtung zielen, indem er beteuerte: „Wir sind in der Lage, mit dieser Krise umzugehen“? Das hörte sich im Zusammenhang mit der Vorgeschichte so an, als ob die Landesregierung durchaus fähig sei, wozu Schäfer nicht fähig gewesen war.
Aus Sicht Bouffiers und Boddenbergs mag vorrangig sein, dass alles vermieden werden muss, was danach aussieht, dass Schäfers Verhalten nachvollziehbar ist – schon um Nachahmer davon abzuhalten, eine ähnliche Verzweiflungstat zu begehen. Aber wäre es dann nicht angemessen, ja geboten gewesen, wenigstens anzudeuten, dass alles dafür spricht, es habe ganz andere Gründe für Schäfers Verhalten gegeben als die Corona-Krise? Dass es gar keinen Grund gibt, schon gar nicht für Schäfer, von den Sorgen über die Corona-Krise erdrückt zu werden?
Das würde nicht nur die Dramatik der Corona-Krise zurechtrücken. Es würde vor allem dem Politiker und Amtsträger Thomas Schäfer gerecht werden – er hätte die Corona-Krise ebenso meistern können wie alle anderen. Allerdings würde die Privatsphäre des Ministers – wenn dessen psychische oder physische Gesundheit so genannt werden sollen – für einen kurzen Augenblick in die Öffentlichkeit geschoben. Ein solcher Augenblick steht aber nicht nur in diesem tragischen Fall für die banale Tatsache, dass auch die stärksten Politiker nur Menschen sind.