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Höchster Zuwachs seit 2007 : Gut eine Million Flüchtlinge mehr – von einem Jahr aufs nächste

Eine Klasse mit geflüchteten Ukrainerinnen im Juli 2022 in Frankfurt Bild: Lucas Bäuml

Die Zahl der Schutzsuchenden ist in Deutschland 2022 stark gestiegen. Etwa eine Million davon stammen aus der Ukraine. Die Union hat die Kommunen zu einem Gipfel eingeladen, um über die Lage zu sprechen.

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          Der russische Überfall auf die Ukraine hat dazu geführt, dass die Zahl der Schutzsuchenden im vergangenen Jahr sprunghaft auf gut drei Millionen angestiegen ist. Das teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden mit. Die Behörde ermittelte den höchsten Zuwachs binnen eines Berichtsjahres seit Beginn der Statistik im Jahr 2007. So stieg die Zahl der registrierten Flüchtlinge 2022 im Vergleich zum Jahr davor um 1,14 Millionen an. Gut eine Million davon stammen aus der Ukraine.

          Tim Niendorf
          Politikredakteur.

          Nach den ukrainischen Flüchtlingen (es sind vor allem Frauen), kommen die meisten der gut drei Millionen Schutzsuchenden aus Syrien (674.000). Danach folgen Afghanistan (286.000), Irak (211.000) und die Türkei (101.000).

          Der typische ukrainische Flüchtling in Deutschland ist eine gebildete Frau, um die 40 Jahre alt, mit Berufserfahrung und mindestens einem (minderjährigen) Kind – der Familienvater, weit weg, verteidigt die Heimat. So könnte man die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten repräsentativen Umfrage über die Lebenssituation und die Zukunftspläne der Ukrainer in Deutschland zusammenfassen.

          Ukrainische Flüchtlinge haben Sonderrolle

          Die Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Katharina Spieß, ging am Donnerstag in einer Onlineveranstaltung auf die Studie ein. Dass vor allem Frauen mit Kindern gekommen seien, unterscheide diese Flüchtlingsgruppe stark von denen anderer Nationalitäten. Und noch etwas sei auffällig: Nur neun Prozent hätten angegeben, in einer Gemeinschaftsunterkunft untergekommen zu sein. 74 Prozent haben demnach privat eine Bleibe gefunden. Ein Viertel der Befragten, zeigt die Auswertung der fast 12.000 Interviews, hat die Absicht, für immer in Deutschland zu bleiben, ein Drittel möchte dies nur bis zum Kriegsende.

          Wer aus der Ukraine kommt, für den gelten andere Regeln als für andere Flüchtlinge, die von außerhalb der Europäischen Union einreisen. Asyl sollen die ukrainischen Flüchtlinge nicht beantragen, ihnen kann auch ohne ein langwieriges Verfahren ein vorübergehender Schutz gewährt werden, was die Behörden entlasten soll. Auch haben sie so einen leichteren Zugang etwa zum Arbeitsmarkt.

          Von den gut drei Millionen Schutzsuchenden in Deutschland verfügen 2,25 Millionen Personen über einen humanitären Aufenthaltstitel. Der häufigste Status in dieser Gruppe ist der vorübergehende Schutz gemäß der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie der Europäischen Union, von dem vor allem ukrainische Flüchtlinge Gebrauch machen (703.000 von 724.000). Einen Status als anerkannter Flüchtling nach der Genfer Konvention haben hingegen 574.000 Personen, mehr als die Hälfte davon hat die syrische Nationalität.

          In mehr als einer halben Million Fälle war bis zum Ende des Berichtsjahres noch nicht über das Schutzgesuch rechtskräftig befunden worden. Gut eine Viertelmillion hatte zu diesem Zeitpunkt einen abgelehntem Schutzstatus.

          In der Politik nimmt die Debatte über eine verschärfte Migrationspolitik angesichts der hohen Flüchtlingszahlen und der Überforderung vieler Kommunen weiter Fahrt auf. Aus Hannover meldete sich Oberbürgermeister Belit Onay (Grüne) zu Wort. „Weder die Überlastungsrhetorik noch die politischen Forderungen nach verschärften Maßnahmen werden der realen Situation gerecht“, schrieb dieser in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenportal „The Pioneer“.

          Positionspapiere von Union und FDP

          Damit zielte er unter anderem auf die Union. Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann von der CSU stellte am Donnerstag die Höhe der Sozialleistungen an Asylbewerber in Frage. Wie er im Gespräch mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ sagte, seien diese im europäischen Vergleich sehr hoch. „Wir müssen mal ernsthaft darüber nachdenken, ob wir uns das auf Dauer leisten können. Das ist ein Anziehungseffekt, über den man reden muss.“

          Während eines Kommunalgipfels der Unionsfraktionen bat der Fraktionsvorsitzende und CDU-Chef Friedrich Merz der Bundesregierung am Donnerstag an, zusammenzuarbeiten, um den Kommunen bei der Unterbringung von Migranten unter die Arme zu greifen. „Wir wollen hier Lösungen haben, damit in diesem Land die Hilfsbereitschaft aufrechterhalten bleibt“, sagte er. Bürgermeister und Landräte berichteten in einer Aussprache von teils menschenunwürdigen Unterbringungssituationen für Migranten, unter anderem, weil viele Menschen in Deutschland blieben, die eigentlich ausreisen müssten.

          Während des Gipfels sollte ein Positionspapier mit dem Titel „Für Humanität und Ordnung in der Asyl- und Flüchtlingspolitik“ vorgestellt werden, über dessen Inhalt die F.A.Z. schon Anfang März berichtet hatte. Demnach soll es unter anderem eine klare Abgrenzung zwischen Asylverfahren und der Einwanderung in den Arbeitsmarkt geben.

          Auch aus den Reihen der Ampelkoalition gab es einen Vorstoß. Der FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle und der Parlamentarische Geschäftsführer Stephan Thomae legten nach Medienberichten ein Positionspapier vor, das auf mehr Kontrolle bei der Migration abzielt. Eine Forderung ist demnach, dass Asylanträge künftig auch in Drittstaaten geprüft werden können. Zudem wünschen sich die Politiker eine „Rückführungsoffensive der Bundesländer“ und mehr Kompetenzen der Bundespolizei bei Rückführungen ausreisepflichtiger Migranten.

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