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Wird 2017 wieder Krisenjahr? : „Für den Historiker ist es besser, wenn es funkt und kracht“

Flüchtlingskrise vor 100 Jahren auf der Westbalkan-Route: Vor griechischen und serbischen Truppen geflohene bulgarische Männer und Jungen im September 1913. Bild: © Musée Albert-Kahn

Für viele Zeitgenossen war schon das Drei-Krisen-Jahr 2016 ein annus horribilis. Der Historiker Andreas Rödder im FAZ.NET-Gespräch zur Frage, ob 2017 noch beunruhigender wird und der Blick zurück in die krisenhafte Kaiserzeit uns beruhigen kann.

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          Herr Rödder, was hat Sie 2016 überrascht?

          Timo Frasch
          Politischer Korrespondent in München.

          Die Offenheit der Zukunft hat schneller zugeschlagen als ich erwartet hätte. Das Entwicklungsmuster der EU, die „ever closer union“, schien wie in Blei gegossen; heute ist es beinahe zur Lachnummer geworden. Dasselbe gilt für das, was ich 2015 in meinem Buch „21.0“ als  ideologische Überspitzungen der „Kultur der Inklusion“ bezeichnet habe. Damals ging ich davon aus, dass es sich um einen stabilen Trend handelt; binnen eines Jahres ist es mehrheitsfähig geworden, über „politische Korrektheit“ zu spotten. Und während wir vor einem Jahr fast ausschließlich von der Flüchtlingskrise gesprochen haben, hatte den Brexit und Trumps Wahlsieg außer ein paar Mavericks, die auf die ganz hohen Einsätze zielen, niemand auf der Rechnung.

          War das vergangene Jahr wirklich ein Krisenjahr? Oder haben wir es lediglich so empfunden?

          Die Dreifachkrise, mit der wir konfrontiert sind, Eurokrise, Ukrainekrise und Nahostkrise, und deren Verbindung miteinander, hat sicher eine besondere Qualität. Aber Krise besteht immer aus zwei Dingen: der Substanz und der Wahrnehmung. Beides muss man zusammendenken. Die Konjunkturkrise von 1966/67 haben die Zeitgenossen als tiefen Einschnitt wahrgenommen – Ludwig Erhard ist darüber gestürzt. Darüber können wir uns heute nur noch wundern.

          Wie viel Substanz steckt in der momentanen Überforderung der Leute?

          Die Globalisierung wird als alles überrollendes Phänomen wahrgenommen. So ähnlich war es mit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts. Die Ungewissheit für eine siebenköpfige Familie, die damals vom Land in die Industriestadt gezogen ist, dürfte kaum geringer gewesen sein als für uns heute. Alles schien damals anders, vor allem immer schneller zu werden.

          Historisch sattelfest bei Krisenjahren: Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz.
          Historisch sattelfest bei Krisenjahren: Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg Universität Mainz. : Bild: Wolfgang Eilmes

          Autos kamen auf, der letzte Schrei waren Sechs-Tage-Rennen, und tollkühne Männer fingen an, sogar mit Flugzeugen zu fliegen. Wenn Sie einen Zeitgenossen des Jahres 1908 gefragt hätten, der hätte ihnen gesagt: Die Welt ist aus den Fugen.

          Mit verheerenden Folgen.

          Das Unbehagen hat sich im Zeitalter der Weltkriege entladen. Selbst Käthe Kollwitz hat im Ersten Weltkrieg die „befreiende Tat“ gesehen, zunächst jedenfalls. Ich will die Zeit damals aber nicht verkürzt gleichsetzen mit dem, was wir heute erleben. Man muss mit der Identifikation von historischen Mustern vorsichtig sein. Man muss aber auch vorsichtig sein mit der Behauptung von historischer Einmaligkeit. Die gilt immer nur so lange, bis sie widerlegt wird.

          Vor hundert Jahren haben Zeitgenossen schon das Herantreten an einen Zeitungskiosk als ein zu viel an Reizen, als Überforderung empfunden. Auch darüber wundern wir uns heute. Könnte es uns irgendwann so ähnlich gehen mit der angeblichen Überforderung durch die Flüchtlingskrise?

          Ich würde schon einen Unterschied machen zwischen dem Herantreten an ein Zeitungskiosk und einer sechs- oder siebenstelligen Zahl von Flüchtlingen. Aber auch da gibt es keine historisch eindeutige Antwort. In der Flüchtlingskrise wurden, was das Sag- und Machbare betrifft, zum Teil Dinge über Nacht möglich, die Sie am Vortag noch für völlig ausgeschlossen gehalten haben, im Positiven wie im Negativen. Wir sind nach wie vor auf hoher See, und wo wir ankommen, weiß noch niemand.

          Schon vor 1914 hieß es, die Großmächte seien wirtschaftlich so sehr miteinander verflochten, dass ein Krieg, gar ein weltumspannender, quasi gar nicht mehr möglich sei. Auch heute wird von vielen so getan, als handele es sich bei der Globalisierung um ein irreversibles Naturgesetz.

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