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Wie die Sonne im Himmel : So verbiegt die AfD die Polizeiliche Kriminalstatistik

Die AfD-Politiker Beatrix von Storch (links), Martin Hess und Gottfried Curio (rechts) sitzen am 29. Mai bei der Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses zur Bamf-Affäre Bild: dpa

„Schluss mit Augenwäscherei“ fordert Martin Hess. Doch um Flüchtlinge zu diskreditieren, präsentiert der AfD-Innenpolitiker eine falsche Rechnung.

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          Flüchtlinge sind krimineller als Deutsche. Dieser Satz ist für den AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hess über jeden Zweifel erhaben. „Wer dies immer noch leugnet, der hat entweder keine Ahnung oder lügt bewusst die deutsche Bevölkerung an. Schluss mit Schönrederei und Augenwäscherei (sic)!“, schrieb Hess mit großem Selbstbewusstsein am Montag auf seiner Twitterseite. Dazu stellte Hess ein Diagramm, in dem zwei farbige Balken miteinander verglichen wurden. Ein gelber Balken für die Deutschen und ein roter Balken für die Flüchtlinge. Gerechnet wurde in „Tatverdächtige pro 100.000 Personen“.

          Justus Bender
          Redakteur in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Bei „Straftaten gegen das Leben“ glich der gelbe Deutschbalken der Größe eines flachen Bordsteins, während der rote Ausländerbalken wie ein Wolkenkratzer in die Höhe schoss. Verhältnis: 3 gegen 31. Gleiches im Bereich „Sexuelle Nötigung/Vergewaltigung“, dort stand es 8 gegen 87, zu Ungunsten der Flüchtlinge. Bei „Gefährliche/schwere Körperverletzung“ betrug das Ergebnis der Rechnung sogar 125 gegen 1304, und im Bereich „Gewaltkriminalität“ 153 gegen 1583. Die Aussage der stellvertretenden Bundestagspräsidentin Claudia Roth (Grüne) gegenüber der Zeitung „Die Welt“, man solle „nicht so tun, als seien Geflüchtete per se krimineller als Deutsche“, hält Hess deshalb für widerlegt. „Doch, Frau Roth, Flüchtlinge sind krimineller als Deutsche!“ Eine Internetnutzerin bedeutet Hess, er müsse sich gar keine Mühe geben: „Sie sprechen zu einer Frau ohne Hirn.“ Andere bezeichnen Roth als „minderbemittelt“ oder sagen, die von Hess präsentierte Statistik sei „so offensichtlich wie die Sonne im Himmel“. Hinterfragt werden seine Zahlen nicht, sie bestätigen Erwartungen, gerade zu einer Zeit, in der über grausame Sexualmorde durch Flüchtlinge an Mädchen berichtet wird.

          Tatsächlich strahlt die Statistik von Hess eine gewisse Autorität aus. Sie wirkt professionell und das hineinmontierte Foto von Hess zeigt ihn seriös mit Anzug und Krawatte. Hess ist noch dazu ein Mann vom Fach. Er ist Mitglied des Innenausschusses und war früher Polizist von Beruf. Noch dazu steht im Kleingedruckten unter seiner Grafik: „Datengrundlage PKS Bund 2017“, gemeint ist die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes. Eine seriöse Quelle also. Das Problem ist nur: Die Statistik von Hess ist falsch. Sie stimmt nicht. Gar nicht.

          Eine Sprecherin des Bundeskriminalamtes teilt auf Anfrage mit, es könne „nicht nachvollzogen werden“, wie Hess die Zahlen berechnet habe. „Diese Zahlen gehen nicht aus der bundesweiten PKS hervor“. Überhaupt sei ein Vergleich von Tatverdächtigen unter „Deutschen“ und „Flüchtlingen“ pro 100.000 Personen nicht möglich. In der Kriminalstatistik gibt es keine „Flüchtlinge“, sondern „Zuwanderer“ mit dem Aufenthaltsstatus „Asylbewerber“, „Schutzberechtigte und Asylberechtigte“, „Duldung“, „Kontingentflüchtling“ oder „unerlaubter Aufenthalt“. Für eine Vergleichsrechnung wäre das kein Problem. Man könnte die Tatverdächtigen unter diesen Personen zusammenzählen. Für eine Berechnung der Tatverdächtigen pro 100.000 Personen und einen Vergleich mit den Deutschen müsste man diese Summe aber mit einer Gesamtzahl ins Verhältnis setzen. Und diese existiert nicht.

          Die „Zahl der in Deutschland aufhältigen Zuwanderer im Sinne der PKS-Definition“ könne „kaum akkurat bestimmt werden“, teil das Bundeskriminalamt mit. Wieder kein Problem, möchte man meinen, man könnte die Zahl schätzen, wie es Hess möglicherweise getan hat. Und doch wäre der Vergleich nicht aussagekräftig: Er wäre nicht nach Alter und Geschlecht bereinigt, mit großen Auswirkungen auf das Ergebnis.

          Bild: AFD

          „Alter und Geschlecht sind Merkmale, die mit Kriminalität eng zusammenhängen. Schon unabhängig vom Alter ist die Kriminalitätsbelastung deutscher Männer etwa dreimal so hoch wie bei Frauen“, teilt das Bundeskriminalamt mit. Unter Zuwanderern ist die besonders kriminalitätsbelastete Gruppe junger Männer überrepräsentiert. Um die AfD-Erzfeindin Claudia Roth zu verhöhnen, hatte Hess also eine falsche Rechnung präsentiert und ausgerechnet behauptet: „Schluss mit Augenwäscherei!“

          Mit gewaschenen Augen sind anhand der Kriminalstatistik durchaus diskussionswürdige Aussagen möglich. Sogar solche, die – je nach Geschmack – in AfD-Kreisen auf Gefallen stoßen könnten. Auf Seite 13 des Bundeslagebildes des Bundeskriminalamtes etwa lässt sich der Anteil der Tatverdächtigen nach Nationalität vergleichen. Die Frage, aus welchem Land im Schnitt die kriminelleren Einwanderer stammen, wird hier annähernd beantwortet. Während Syrer etwa 35,3 Prozent aller Asylsuchenden ausmachen, liegt ihr Anteil unter den tatverdächtigen Einwanderern nur bei 20 Prozent. Ähnlich verhält es sich bei Asylsuchenden aus Afghanistan, Irak und Albanien. Sie sind – entgegen manchem Vorurteil – beim Anteil der Tatverdächtigen unterrepräsentiert.

          Anders verhält es sich bei Einwanderern aus Marokko, Algerien, Serbien, Georgien, Gambia und Guinea. Sie sind bei den Tatverdächtigen überrepräsentiert. Eine Aussage über den Nationalcharakter der betreffenden Länder ist das nicht. Marokkaner sind deshalb nicht krimineller als Deutsche. Es ist ein Indiz, dass speziell die Marokkaner in Deutschland öfter tatverdächtig sind als andere. Auch hier können Geschlecht, Alter und soziale Herkunft der konkreten Asylsuchenden eine Rolle spielen. Während aus dem einen Land vielleicht mehr junge Männer nach Deutschland kommen, sind es aus dem anderen Land vielleicht eher Familien mit Kindern. Sämtliche Aussagen über Tatverdächtige sind ohnehin mit Vorsicht zu genießen, ein Tatverdächtiger ist noch kein Verurteilter, darauf legt auch jeder Deutsche, der angezeigt wird, großen Wert. Die Wirklichkeit ist kompliziert.

          Vielleicht hätte Hess ausgerechnet von seiner Gegnerin Roth lernen können. Diese formulierte ihre Aussage – „man sollte nicht so tun, als seien Geflüchtete per se krimineller als Deutsche“ – so weich, dass sie schwerer zu bewerten ist. „Per se“ ist das Zauberwort. Wenn Flüchtlinge nicht „per se“ krimineller sind als Deutsche können es bestimmte Gruppen von Flüchtlingen aus bestimmten Ländern trotzdem sein. Das ist – per se – nicht ausgeschlossen. Man kann sich aber nicht auf die Kriminalstatistik berufen, wenn man es behaupten wollte.

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