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Merkel-Rückzug : „Weiter so“ reicht nicht mehr

  • -Aktualisiert am

CDU-Pressekonferenz von Angela Merkel und Volker Bouffier Bild: AFP

Mit dem Verzicht auf den CDU-Parteivorsitz erkennt Angela Merkel die Tatsache an, dass eine „Rückkehr zur Sachpolitik“ das Vertrauen der Wähler kaum wiedergewinnen wird. Das erhöht den Druck auf die SPD noch mehr.

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          Angela Merkel hat offenkundig verstanden: Beim CDU-Parteitag Anfang Dezember in Hamburg will sie nicht mehr als Parteivorsitzende antreten, nach F.A.Z.-Informationen ist Friedrich Merz bereit, den Vorsitz zu übernehmen. Damit zieht Merkel die Konsequenz aus dem Debakel bei der Landtagswahl in Hessen – und erkennt eine Tatsache an, die bei anderen erst noch langsam durchsickert: Dass eine „Rückkehr zur Sachpolitik“ allein das verloren gegangene Vertrauen der Wähler nicht zurückgewinnen kann, auch wenn das am Sonntagabend viele noch mantraartig wiederholten. Sondern dass es auch um die politischen Köpfe geht.

          Was die CDU betrifft, ist Angela Merkel für Teile der Gesellschaft, die bei weitem nicht nur im AfD-Milieu zu finden sind, sondern bis tief hinein ins christlich-bürgerliche, zu einer persona non grata geworden, mit der kein Staat und erst recht keine Erneuerung mehr zu machen sei. Unter AfD-Anhängern ist sie gar zu einer regelrechten Hassfigur geworden, auf die alle Wut auf „die Politik“ projiziert wird wie seinerzeit auf Hillary Clinton in den Vereinigten Staaten. Merkel war auch in der CDU jahrelang unangefochten, weil sie als Garantin für Anerkennung und Wahlsiege galt – als Symbol des politischen Erfolgs. Jetzt ist sie für viele zu einem Symbol des Misserfolgs und schleichenden Machtverlusts geworden – und zu einer Kanzlerin, die den Punkt, ihr politisches Ende zur rechten Zeit selbst zu bestimmen, zu verpassen droht.

          An diesem Bild wird keine noch so konstruktive „Sachpolitik“ der Welt mehr etwas ändern – das hat Merkel offensichtlich begriffen. Ihr Schritt, den Parteivorsitz abzugeben, ist damit zugleich ein erstes Zugeständnis an die Tatsache, dass es in der Politik eben nicht allein um die Sacharbeit geht, sondern auch um die Kraft der Symbolik. Auch wenn die Debatte, ob die Kanzlerin die Trennung von Parteivorsitz und Amt wirklich bis zum Ende der Legislaturperiode durchhalten könne und ob sie mit dem Parteivorsitz jetzt nicht das „falsche Amt“ abgebe, wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner es formuliert, den Erneuerungsdruck auf Merkel weiter aufrechterhalten wird.

          Friedrich Merz aber könnte durch seine konservative Strahlkraft jene CDU-Anhänger, die durch Merkels umarmenden Kurs links der Mitte enttäuscht zur AfD abwanderten, wieder zur Union zurückholen. Das gilt auch für enttäuschte Wirtschaftsliberale, die Lindners „Aufbruch“ in die FDP zog, für die eine Merz-CDU jetzt aber wieder das deutlich attraktivere Angebot sein könnte. Für die parteiinternen Konkurrenten um den Parteivorsitz wie Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn ist Merz' Kandidatur schon deshalb ein empfindlicher Schlag. Trotzdem scheint offen, wer der drei Kandidaten sich auf dem Parteitag Anfang Dezember in Hamburg durchsetzen wird.

          In jedem Fall liegt der Ball nun bei der SPD: Nach dem Debakel in Hessen und dem angekündigten Rückzug Merkels muss sie sich erst recht etwas einfallen lassen, das ihre erodierende Wählerschaft endlich mit jener „Erneuerung“ verbindet, von der die Sozialdemokraten seit langem immer nur reden. Eine „konstruktivere Sachpolitik“ allein wird dies aber genauso wenig bewirken können wie bei der CDU. Viele Genossen an der Basis haben nicht erst seit dem Personalgezerre nach der Bundestagswahl den Eindruck, nicht einmal die Parteispitze wisse noch genau, wofür die deutsche Sozialdemokratie noch stehe. Daran wird die SPD arbeiten müssen, und das schnell.

          Das betrifft gerade auch einen erfahrenen, weithin geschätzten Kopf wie Vizekanzler Olaf Scholz, der Andrea Nahles im Kampf um mehr Glaubwürdigkeit und Profilierung in hanseatischer Zurückhaltung bislang allzu sehr allein gelassen hat. Auch er wird seine Zurückhaltung künftig aufgeben und viel klarer machen müssen, wofür er und seine SPD stehen – und sich mehr als bislang mit breitem Kreuz programmatisch vom Koalitionspartner abgrenzen. Das gilt insbesondere mit Blick auf Friedrich Merz, der als möglicher neuer CDU-Vorsitzender auch einen prominenten Posten im Kabinett übernehmen könnte. Sollte das so kommen, würde der zu erwartende Merz-Hype es für die SPD umso wichtiger machen, dem CDU-Finanzexperten ein ebenbürtiges, schlagkräftiges Gegengewicht entgegenzustellen.

          Unter Druck: Andrea Nahles
          Unter Druck: Andrea Nahles : Bild: dpa

          Die Grünen stehen derzeit so gut da, weil sie politisch offenkundig den Zeitgeist treffen, der gerade im liberal-urbanen Großstadtmilieu immer stärker wird. Aber auch deshalb, weil sie auch personell schon jenen (geistigen)  Generationswechsel vollzogen haben, den vor allem die SPD noch immer unwillig vor sich herschiebt. Die FDP wiederum, die am Ende der Westerwelle-Ära in einem vergleichbar desolaten Zustand war wie jetzt die SPD (wenn auch aus anderen Gründen), wurde 2013 mit der Abwahl aus dem Bundestag ebenfalls zu einem radikalen programmatischen und personellen Schnitt gezwungen, der den Aufstieg der Lindner-Partei aus der Asche erst möglich gemacht hat.

          Keine Alternative vom Schlage eines Merz oder Habecks

          Die SPD hat, das sollten auch Genossen wie der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert wissen, derzeit schlechterdings keinen Kandidaten vom Kaliber eines Friedrich Merz oder des Duos Habeck/Baerbock, der als neuer Parteivorsitzender eine Image- und Kurskorrektur und mithin eine echte „Erneuerung“ verkörpern könnte. Auch sind die Argumente nicht von der Hand zu weisen, es sei Selbstmord, wenn die SPD als Reaktion auf Hessen jetzt gleich wieder die nächste Parteivorsitzende austauschte, ohne dass dahinter eine echte Führungsfigur zum Vorschein käme.

          Einstweilen bleibt der SPD also nur die (bittere) Erkenntnis, endlich das unüberhörbare Signal zu befolgen, das die Wähler ihr in Hessen gegeben haben: dass neue „Sachpolitik“ in alten Schläuchen allein nicht mehr reichen wird. Sondern dass man den Neuanfang, von dem man immer redet, endlich auch mit durchgedrücktem Kreuz verkörpern muss. Ob Andrea Nahles dazu die Kraft hat?

          Oliver Georgi
          Redakteur in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

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