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Koalition in Baden-Württemberg : Warum Grün-Schwarz in Stuttgart funktioniert – und anderswo nicht

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (r., Grüne) und sein Stellvertreter Thomas Strobl von der CDU Bild: dpa

Die grün-schwarze Koalition in Baden-Württemberg kann zur Halbzeit einige Erfolge vorweisen. Die Wirtschaftslage in dem Bundesland verbessert sich seit 2010 stetig. Doch den Zulauf zur AfD stoppt das nicht. Eine Analyse.

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          Zum Verständnis politischer Veränderungen schadet die historische Perspektive nicht: In Baden-Württemberg war für die CDU vor einem Jahrzehnt die absolute Mehrheit noch ein realistisches Ziel. Im Jahr 2006 bekam die CDU bei der Landtagswahl 44 Prozent, heute ist sie mit 28 Prozent schon zufrieden. Die politische Landschaft und das Parteiensystem des wirtschaftsstärksten Bundeslandes haben sich seitdem vollständig verändert: Eine Meinungsumfrage ergab gerade, dass die derzeitigen Wahlabsichten der Bürger weder eine sogenannte große Koalition ermöglichen würden, noch wäre es möglich, eine „Deutschland-Koalition“, also eine Regierung aus CDU, SPD und FDP, zu bilden. Eine Ampelkoalition ist bislang an der FDP krachend gescheitert.

          Rüdiger Soldt
          Politischer Korrespondent in Baden-Württemberg.

          Die Bankenkrise, der Niedergang der Volksparteien und die gesellschaftliche Spaltung, die Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Flüchtlingspolitik in Kauf nahm, haben auch in dem Vorzeigebundesland mit einem starken Bürgertum Spuren hinterlassen: Die wirtschaftliche Situation verbesserte sich seit 2010 ständig – politisch stabile Verhältnisse garantiert das heute nicht mehr.

          Die alte These, die wirtschaftliche Prosperität des Südwestens werde der AfD zwischen Karlsruhe und Konstanz weniger Zulauf bescheren als andernorts, erwies sich als falsch, denn die Ursachen der gesellschaftlichen Spaltung sind Fragen von kultureller und nationaler Identität. Besorgniserregend ist, dass die AfD gerade erst damit beginnt, auch wirtschaftspolitische Fragestellungen populistisch auszuschlachten. Demokratisch denkende und politisch erfahrene mittelständische Unternehmer im Südwesten berichten, dass sie das Ausmaß der Eliten- und Demokratieverachtung, wie sie es in ihrem eigenen Umfeld seit 2015 registrieren, zutiefst beunruhigt.

          Regierung der Mitte

          Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, von seinem Naturell her alles andere als ein Alarmist, warnte zur Halbzeit der Legislaturperiode der grün-schwarzen Koalition vor den „enormen Angriffen“ der Rechtspopulisten auf den modernen Verfassungsstaat, auf Pluralität und Menschenrechte. Da er gewiss mit Genugtuung gelesen haben wird, dass sich in Meinungsumfragen eine Mehrheit der Bürger in Baden-Württemberg eine dritte Amtszeit des Amtsinhabers wünscht und 58 Prozent der Bürger mit der Regierungsarbeit der Grünen zufrieden sind, schwinden die Möglichkeiten Kretschmanns, sich aufs Altenteil zurückzuziehen.

          Die erste grün-schwarze Koalition der Republik versteht sich als Regierung der Mitte. Eine Komplementärkoalition, wie Kretschmann zunächst vermutete, ist das Bündnis nicht geworden, denn CDU und Grüne streiten häufig selbst über die Themen, die sie eigentlich dem Regierungspartner überlassen wollten. Das wirkt manchmal lächerlich und ist selten produktiv. Die Kompromissfindung der Koalition gestaltet sich aufwendig.

          In manchen Fällen kommen auch nur deshalb Kompromisse zustande, weil sich das Land diese aufgrund guter Steuereinnahmen leisten kann. Auch Verschleißerscheinungen der Grünen nach sieben Jahren in der Regierung zeigen sich an manchen Stellen. Das gehört zur Normalität. Offenkundig ist auch das weiterhin ungelöste Führungsproblem der früher so mächtigen Südwest-CDU. Ob der CDU-Landesvorsitzende seine Partei als Spitzenkandidat in die nächste Wahl führen wird, ist keineswegs ausgemacht. Die mit Abstand beliebteste CDU-Politikerin ist Kultusministerin Susanne Eisenmann.

          Kein anderes Land steckt mehr in die Digitalisierung

          Es wäre falsch, aus all diesen Indizien kurzerhand zu schließen, Grüne und CDU würden das Land schlecht regieren. Kretschmann und sein Stellvertreter Thomas Strobl von der CDU halten diese Koalition nach Kräften zusammen – auch aus Gründen der Staatsräson. Sie können aber auch Erfolge vorweisen: Das Polizeigesetz modernisierten sie, die Polizeistrukturreform wurde endlich verbessert, die Realschulen gestärkt, die Schuldentilgung in geringem Umfang erhöht, zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur zeigen erste Wirkungen.

          Kein anderes Land steckt derart viel Geld in die Digitalisierung. Dank der CDU und ihrer Wirtschaftsministerin haben Technologiepolitik und die Unterstützung von Unternehmensgründern einen noch höheren Stellenwert. Zum Ausruhen gibt es aber keinen Grund: Die Unterrichtsqualität in allen Schularten muss dringend verbessert werden. Bei den wirtschaftlichen Investitionen hat Bayern den Südwesten abgehängt.

          Der pragmatische Kurs ist mit den Grünen möglich, weil der Landesverband schon vor Jahrzehnten ein großes Interesse an den Themen nachhaltige Haushalts-, Innovations- und Wirtschaftspolitik entwickelte. Das basiert auf Entscheidungen, für die Kretschmann früher in seiner Partei hart kämpfen musste. Diese Entscheidungen zahlen sich für die Grünen heute aus, die Ökopartei kann ihren Status als linke Volkspartei möglicherweise sogar halten, wenn sie einmal ohne ihren Sympathieträger Kretschmann auskommen muss.

          Die SPD tut sich schwer

          Die AfD radikalisiert sich weiter, nach jüngsten Umfragen könnte sogar die Linkspartei erstmals den Einzug in den Landtag schaffen. Geradezu dramatisch ist der Absturz der SPD: Sie notiert derzeit bei elf Prozent. Weder personell noch inhaltlich ist für die SPD ein Ausweg in Sicht. Und das in einem Land mit starker Industriearbeiterschaft. Die abhängig Beschäftigten, die sich von der Einwanderung bedroht fühlen, konnte die SPD nicht an sich binden. Die gut verdienenden Arbeiter fühlen sich bei der CDU gut aufgehoben, urban sozialisierte Akademiker bei den Grünen. Auch wenn Grüne und CDU viel zu lange gebraucht haben, um gegen Wohnungsnot und hohe Mieten etwas zu tun, profitiert die SPD hiervon wenig.

          In den grün-roten Regierungsjahren verantworteten die Sozialdemokraten die wichtigsten Großreformen, leider hatten sie dabei keine glückliche Hand: Einige Polizeipräsidien gerieten zu groß. Schwerwiegender waren die Fehler in der Bildungspolitik: Mit der Gemeinschaftsschule führte man durchaus mit guten Gründen einen neuen Schultypus ein, leider ist das ideologiegeleitete pädagogische Konzept bis heute nicht korrigiert worden.

          Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen) in Santa Clara, Kalifornien
          Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis90/Die Grünen) in Santa Clara, Kalifornien : Bild: dpa

          Was häufig übersehen wird: Selbst die FDP schafft es in ihrem einstigen „liberalen Stammland“ nur mit einem äußerst aggressiven Oppositionsstil, sich über der Fünfprozenthürde zu halten, etwa dann, wenn der Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke davon spricht, Frau Merkel müsse man „aus dem Stuhl“ kratzen, damit sie endliche weiche. Oder wenn Rülke unterstellt, der für die Dieselfahrverbote zuständige Verwaltungsrichter sei ein „Waffenbruder“ des grünen, autokritischen Verkehrsministers. Rülke führt außerdem eine von tiefer persönlicher Abneigung geprägte Kampagne gegen Innenminister Thomas Strobl. Mit solcher Rabulistik flüchtet sich die alte Staatsgründungspartei in billigen Populismus und irritiert das bürgerliche Publikum.

          Mangels politischer Mehrheiten ist das Modell Grün-Schwarz oder Schwarz-Grün im Moment kein Exportschlager nach Berlin oder in zahlreiche andere Länder. Aber in Hessen und in Baden-Württemberg funktionierten diese Koalitionen gut. Dass es in Hessen wahrscheinlich nicht für eine zweite Auflage der schwarz-grünen Koalition reicht, liegt nicht an der Regierungsarbeit von Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und Tarek al-Wazir (Grüne) – die Ursachen hierfür sind der ewige Unionszwist, die Flüchtlingspolitik und das Erstarken der AfD. Das sollten Union und Grüne in ihren strategischen Debatten nicht ausblenden, wenn sie die Zukunftsfähigkeit von Schwarz-Grün bewerten. Und im Übrigen sollten auch die Bürger bei der Bewertung dieser Koalitionen bedenken, was auf dem Spiel steht.

          Umfrage zur Landtagswahl in Hessen

          , Umfrage von:
          Quelle: wahlrecht.de Alle Ergebnisse aus Bund und Ländern

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