Wahlrecht verfassungswidrig : „Eine konstitutionelle Staatskrise“
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Die Entscheidung der acht Richter des Zweiten Senats erging einstimmig. Eine Übergangszeit gestand das Gericht der Politik nicht zu. Im Jahr 2008 hatte es noch eine Neuregelung innerhalb von drei Jahren verlangt. Union und FDP hatten indes erst im September vorigen Jahres die Reform des Wahlrechts im Alleingang durchgesetzt, die im Dezember in Kraft trat. SPD, Grüne und mehr als 3000 Bürger klagten dagegen in Karlsruhe. Voßkuhle bezeichnete das Ergebnis der Reform am Mittwoch als „ernüchternd“.
Zum Ersten beanstandeten die Richter, dass auch nach neuem Recht Wählerstimmen für eine Partei negativ ins Gewicht fallen könnten. Die Reform hatte die bundesweiten Verbindungen von Parteilisten beendet, die 2008 als eine Ursache dieses verfassungswidrigen Paradoxons ausgemacht worden waren. Nun sollte jedem Bundesland ein nach der Wählerzahl bemessenes Kontingent von Abgeordnetensitzen zugewiesen werden, um das nur noch die Landeslisten der in dem jeweiligen Land angetretenen Parteien konkurrieren sollten. Gemäß dem Urteil vom Mittwoch liegt das Problem dabei darin, dass die Größe der Sitzkontingente nicht an eine vor der Stimmabgabe feststehende Variable anknüpft, sondern an die Wahlbeteiligung.
Ein negatives Stimmgewicht könne, so der Senat, immer dann auftreten, wenn sich der Zuwachs an Zweitstimmen für die Landesliste einer Partei nicht auf deren Zahl an Sitzen auswirke (weil die zusätzlichen Stimmen nicht für die Zuteilung eines weiteren Sitzes ausreichen oder der Landesliste aufgrund des Erststimmenergebnisses schon mehr Wahlkreismandate zustehen als Listenmandate), die mit dem Zweitstimmenzuwachs einhergehende Erhöhung der Wählerzahl aber zugleich das gesamte Sitzkontingent des Landes um einen Sitz vergrößert. Dieser könne dann auf die Liste einer konkurrierenden Partei entfallen oder die Liste derselben Partei könne in einem anderen Land einen Sitz verlieren. Umgekehrt könne es einer Partei auch nutzen, eine Zweitstimme weniger zu bekommen.
Mit einem negativen Stimmgewicht sei zu rechnen, wenn eine Veränderung der Zweitstimmenzahl mit einer entsprechenden Veränderung der Wählerzahl einhergehe, etwa, weil Wähler nicht zur Wahl gingen, was „mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ zu erwarten sei. Das führe zu „objektiv willkürlichen Wahlergebnissen“, die den demokratischen Wettbewerb „widersinnig erscheinen“ ließen.
Die Richter gaben dem Gesetzgeber gleichsam einen Ratschlag mit auf den Weg, um den verfassungswidrigen Effekt zu unterbinden: Er könne zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der (beteiligungsbedingten) Wählerzahl die (feststehende) Größe der Bevölkerung oder die Zahl der Wahlberechtigten als Grundlage heranziehen.
Zum Zweiten verwarfen die Richter die Vergabe von Zusatzmandaten im Wege der bundesweiten „Reststimmenverwertung“. Diese zielte darauf ab, Rundungsverluste auszugleichen, die bei der Zuteilung von Sitzen auf Landesebene entstehen. An der Vergabe dieser Mandate könne nicht jeder Wähler mit gleicher Erfolgschance mitwirken. Bei der Auszählung der Stimmen, die auf die Landeslisten entfallen, sollte nämlich nicht nur abgerundet, sondern auch aufgerundet werden; Aufrundungsgewinne aber sollten bei der „Reststimmenverwertung“ außen vor bleiben. Diese Art Zusatzmandat schaffe, so die Richter, keine „Erfolgswertgleichheit“ der Stimmen.