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Wachsender Antisemitismus : Wir brauchen Holocaust-Aufklärung für Junge

  • -Aktualisiert am

Eine Medieninstallation mit den Namen von Opfern des Nationalsozialismus wird von der Initiative #everynamecounts zum Gedenken an die Opfer des Holocaust an die Fassade der Französischen Botschaft projiziert. Bild: dpa

Deutschland ist beispiellos mit seiner Verantwortung im Zweiten Weltkrieg umgegangen. Dennoch muss mehr gegen den wachsenden Antisemitismus durch Holocaust-Aufklärung für Junge getan werden. Ein Gastbeitrag.

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          Heute vor 76 Jahren durchschritt ein einzelner sowjetischer Soldat die Tore des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und verstand im ersten Moment nicht, was er vorfand. Das Lager erschien ihm und anderen als eine Art Gefängnisanlage, aber die Berge an leblosen Körpern, der schreckliche Geruch und auch die überlebenden Gefangenen wiesen darauf hin, dass all dies ohnegleichen war. „Sie haben uns weder gegrüßt noch gelächelt“, schrieb Primo Levi, der einstige Auschwitz-Häftling. „Sie schienen überwältigt, nicht nur von Mitgefühl, sondern auch von einer verwirrten Zurückhaltung, die ihre Lippen verschloss und ihre Augen an diesen Begräbnisort band.“ Primo Levi hatte den Eindruck, sie waren beschämt.

          Seit diesem Tag haben begnadete Schriftsteller, Philosophen und Theologen versucht zu erklären, was diese Soldaten innerhalb der berüchtigten Tore vorfanden, und doch ist niemandem bisher eine hinreichende Antwort gelungen. Möglicherweise kommt Autor Primo Levis Begriff der Beschämung dem am nächsten, wie sich die ganze Welt fühlte, als sie dieser Entweihung des menschlichen Lebens gewahr wurde. Es ist nicht nur Deutschland, das die Last dieser Entweihung trägt. Vermutlich fühlen sich alle Menschen beschämt vom Abgrund des Bösen, den wir nun kennen.

          Juden haben wieder Angst

          Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schien es so, als sei das Virus des Antisemitismus endgültig besiegt. Niemand, der bei klarem Verstand war, wollte mit den Nazis in Verbindung gebracht werden. Sogar die Ewiggestrigen, die dem üblen Hass immer noch anhingen, hatten zumindest verstanden, dass sie ihn verstecken mussten. Aber heute, drei Generationen und 76 Jahre später, was machen wir aus seinem Wiederaufflammen? Während der Pandemie hat der Antisemitismus weltweit um 18 Prozent zugenommen. Und man hat sogar die Juden selbst für das Virus verantwortlich gemacht. Als im 14. Jahrhundert die Pest in Europa wütete, bezichtigte man Juden, sie würden die Brunnen vergiften. Heute zeigen Karikaturen im Internet Düsenjets mit dem Judenstern, die das Virus auf unschuldige Opfer herabfallen lassen. Eine neue Technologie, aber noch derselbe Sündenbock.

          Ronald S. Lauder ist Präsident des Jüdischen Weltkongresses.
          Ronald S. Lauder ist Präsident des Jüdischen Weltkongresses. : Bild: dpa

          Europa war immer schon ein Nährboden für den Hass gegen Juden. Aber heute tritt er in der ganzen Welt auf. Er kommt von ganz rechts außen und von ganz links außen, aus dem Nahen Osten und – was mir besonders leid tut – auch aus meinem eigenen Land. In einem Jahr, in dem rassistische Konflikte Amerika gespalten haben, waren 62 Prozent aller religiös motivierten Hassverbrechen gegen Juden gerichtet. In Deutschland hat sich der Antisemitismus in den letzten drei Jahren verdoppelt, mit mehr als 2000 Vorfällen 2019.

          Es gibt absolut kein anderes Land, das offener, ehrlicher und anständiger mit seiner Verantwortung im Zweiten Weltkrieg umgegangen ist, als Deutschland. Nicht Österreich, nicht Japan. Ihre Kanzler von Adenauer über Brandt bis zu Angela Merkel haben der Welt gezeigt, was verantwortungsvolle Führung bedeutet. Sie haben die Nachkriegsgeneration aufgeklärt, manchmal um den Preis des familiären Friedens. Aber als ich durch die Synagoge ging, die in Halle angegriffen wurde, als ich mit den Menschen dort sprach und als ich erfahren musste, dass Juden wieder Angst davor haben, Zeichen ihrer Religion öffentlich zu tragen, frage ich mich, ob genug getan wird in der Aufklärung der jüngeren Generation.

          Eineinhalb Millionen Kinder ermordet

          Und ich denke, wir brauchen ein Upgrade der Holocaust-Aufklärung. Ich weiß, Bildung ist ein Thema für sich. Aber wenn die reguläre Schulbildung nicht ausreicht, um Ahnungslosigkeit zu verhindern, muss man den Aufwand erhöhen. Man würde das bei jedem anderen Problem auch machen, wo die vorhandenen Antworten nicht ausreichen. Deshalb müssen die Regierungen in Europa und insbesondere in Deutschland über ein zusätzliches Pflichtprogramm in der Holocaust-Aufklärung nachdenken, über das hinaus, was heute gemacht wird. Das beinhaltet auch die Holocaust-Aufklärung für Studierende in den Einführungsvorlesungen. Und wir müssen Wege finden, an diejenigen ranzukommen, die keine Hochschulausbildung bekommen, möglicherweise über soziale Medien. Aber wir müssen etwas tun.

          Die Geschichte lehrt uns: Wenn wir nicht genau aufpassen, wenn wir die Warnsignale überall um uns herum nicht beachten, wenn wir dabei versagen, Antisemiten mit der Wahrheit, Ehrlichkeit und zwingenden Gesetzen entgegenzutreten, dann werden am Ende alle Menschen leiden.

          Vergangenheit soll nicht Zukunft werden

          Ja, Deutschland begann 1933 mit der Verfolgung der Juden, aber innerhalb von zwölf kurzen Jahren lag ein ganzer Kontinent in Ruinen, und 60 Millionen Menschen waren tot. Es gibt noch eine Zahl, die uns bleibt und die uns dabei das Herz bricht. Eineinhalb Millionen. Das ist die Zahl jüdischer Kinder, die in den Gaskammern ermordet, von Soldaten der Einsatzgruppe erschossen oder auf den Straßen der Gettos zu Tode gehungert wurden. Hätten diese Kinder ein normales Leben führen dürfen wie Ihre Kinder, wären sie ausgebildet worden, hätten geheiratet, eine Familie gegründet und selbst Kinder bekommen. Ich habe mich immer gefragt, welche wissenschaftlichen Entdeckungen, welche großartige Literatur und Musik der Welt verlorengegangen ist.

          Die Teilnahmslosigkeit der Welt hat zu den Verbrechen des Dritten Reiches geführt, und die ganze Welt musste unter dieser Teilnahmslosigkeit leiden. In den Gesprächen, die ich mit Holocaust-Überlebenden hatte, habe ich die echte Angst erfahren, die Saat des Hasses wiederzusehen, die zur „Endlösung“ umgesetzt wurde. Diesen ehrbaren und guten Menschen, die nichts Falsches getan hatten – außer dass sie in den Augen Deutschlands jüdisch geboren wurden –, ihnen wurde alles genommen. Ihre Eltern. Ihre Familien. Ihr Zuhause. Alles.

          Und doch haben sie den Horror hinter sich gelassen und nie nach Rache gedürstet. Sie haben einfach ein Leben in stiller Würde geführt. Es wäre ein Verbrechen, würde ihre Vergangenheit zugleich die Zukunft ihrer Enkel werden. Den Menschen in Deutschland sage ich: Lassen Sie Ihre eigene Vergangenheit nicht zur Zukunft der Welt werden.

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