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Vor 20 Jahren : Das Ja zur deutschen Selbstbestimmung

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Kohl und Gorbatschow bei den Feierlichkeiten zum Mauerfall-Jubiläum

Kohl und Gorbatschow bei den Feierlichkeiten zum Mauerfall-Jubiläum Bild: dpa

Als vor genau 20 Jahren Bundeskanzler Kohl in Moskau war, ließ Gorbatschow die DDR endgültig fallen. Für ihn besaßen weder Ministerpräsident Modrow noch der Arbeiter-und-Bauern-Staat auf ostdeutschem Boden eine Zukunft. Pikant: Er ließ Modrow etwas anderes glauben.

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          Das Treffen war nach dem Fall der Berliner Mauer überfällig. Was jetzt alles außenpolitisch anstand, ließ sich nicht mehr per Telefon klären. Daher hatte Bundeskanzler Kohl Anfang Januar 1990 angekündigt, noch „in diesem Jahr“ den sowjetischen Staats- und Parteichef besuchen zu wollen. Ihm liege daran, die „guten politischen und persönlichen Beziehungen“ zu Gorbatschow, die sich im Oktober 1988 in Moskau und im Juni 1989 in Bonn entwickelt hätten, zu vertiefen.

          Doch wieder einmal kam Ost-Berlins Regierungschef Modrow dem Kanzler zuvor – wie am 17. November 1989 mit dem Vorschlag einer deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft, auf die Kohl am 28. November mit seinem Zehn-Punkte-Progamm reagiert und als Ziel die Wiedervereinigung genannt hatte. Am 30. Januar 1990 sprach Modrow im Kreml vor, musste in drastischen Zahlen über die Lage der DDR berichten. Darauf tröstete Gorbatschow den Gast mit der Bemerkung, die DDR erlebe eine „schicksalhafte Zeit“.

          DDR sei nicht mehr zu halten

          Modrow sagte anschließend vor Journalisten, Gorbatschow habe der Formel zugestimmt, dass „beide deutsche Staaten ihre Beziehungen zueinander zielstrebig ausbauen“ sollten, um so „das Zusammenrücken der DDR und der BRD auf dem Wege einer Konföderation weiterzuverfolgen“ – was im Klartext bedeutete, dass es zwei deutsche Staaten geben sollte.

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          Damals war die Entscheidung zur Aufgabe der DDR jedoch bereits gefallen. Am 26. Januar war die Kreml-Führung nach hitzigen Debatten davon ausgegangen, dass die DDR nicht mehr zu halten sei, weil sie sich „bereits aufgelöst habe“. Man hatte für Verhandlungen der vier Hauptsiegermächte mit beiden deutschen Staaten votiert und Marschall Achromejew Order erteilt, den Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR vorzubereiten. „Damit schienen für Gorbatschow die Grenzen des Möglichen erreicht.

          Pikanterweise unterrichtete er den wenige Tage später bei ihm in Moskau weilenden Modrow über diese Entscheidung nicht. Mehr noch, er ließ ihn in dem Glauben, die UdSSR halte an der „Existenz Ostdeutschlands fest“, so schreibt der Potsdamer Historiker Michael Lemke und untermauert dies mit einem Gorbatschow-Satz zu Modrow: „Das Wichtigste ist der Erhalt der staatlichen Souveränität der DDR, die Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten.“

          Gorbatschow lud Kohl zum „Arbeitstreffen“ ein

          Modrow trat aber zum zweiten Mal eine Flucht nach vorn an. Am 1. Februar legte er den Vier-Stufen-Plan „Deutschland, einig Vaterland“ vor mit dem Fernziel „Bildung eines einheitlichen deutschen Staates“ mit Regierungssitz in Berlin (1. Stufe: Wirtschafts-, Währungs- und Verkehrsunion, 2. Stufe: Konföderation mit gemeinsamen Institutionen, 3. Stufe: Übertragung der Souveränitätsrechte beider deutscher Staaten, 4. Stufe: „Wahlen in beiden Teilen der Konföderation zu einem einheitlichen Parlament“), wobei „militärische Neutralität von DDR und BRD auf dem Weg zur Föderation“ sicherzustellen wäre.

          Am 2. Februar lud Gorbatschow dann Kohl zu einem „Arbeitstreffen“ ein. Fieberhafte Aktivitäten im Kanzleramt endeten im Beschluss des Kabinetts, mit der DDR „unverzüglich in Verhandlungen über eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen einzutreten“ – was man am 7. Februar bekanntgab. Kurz zuvor hatte Kohl in Davos Modrow auf dem „World Economic Forum“ getroffen und dessen Forderung nach einer 15-Millarden-DM-Hilfe zurückgewiesen.

          Nachdem Kohl die Meinungsführerschaft beim Thema Einheit zurück gewonnen hatte, stellte er im Bundesvorstand der CDU klar: „Wenn die Union es unterlässt, dass unser Land in dieser Schicksalsfrage aus finanziellen Ängsten vor der Einheit zurückweicht, dann dankt die Bundesrepublik vor der Geschichte ab.“ Zu diesem Zeitpunkt war der amerikanische Außenminister Baker auf dem Weg nach Moskau. Dort bestand sein sowjetischer Kollegen Schewardnadse auf der Neutralisierung und Entmilitarisierung eines geeinten Deutschland, was Washington ablehnte.

          Vielmehr sollte über eine Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der Nato bei Verhandlungen der vier Großmächte unter Beteiligung des west- und ostdeutschen Staates gesprochen werden. Baker sprach auch mit Gorbatschow, der mit einem Sechser-Forum einverstanden war. Und er fragte den Kreml-Chef, was ihm lieber sei: ein vereintes und unabhängiges Deutschland außerhalb der Nato und ohne amerikanische Truppen auf deutschem Boden – oder ein in die Nato eingebundenes vereintes Deutschland mit der verbindlichen Zusage, „dass es keine Ausdehnung der gegenwärtigen Nato-Zuständigkeiten nach Osten geben werde“. Gorbatschow wollte darüber „nachdenken“.

          Als Kohl und Bundesaußenminister Genscher (FDP) am 10. Februar in Moskau landeten, erhielten sie einen Brief von Baker mit dessen Verhandlungsergebnissen. Von 16.00 Uhr bis 18.30 Uhr dauerte die Unterredung Gorbatschow/Kohl, an der außer den Dolmetschern lediglich die Berater Anatoli Tschernajew und Horst Teltschik teilnehmen durften. Teltschiks Gesprächsaufzeichnung (in indirekter Rede) ist in dem 1600-Seiten-Band „Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90“ nachzulesen, der im Sommer 1998 in der Reihe „Dokumente zur Deutschlandpolitik“ erschien.

          Die Einheit stehe auf der Tagesordnung

          Der Kanzler erwähnte zunächst die vielen Sympathien, die Gorbatschow in der Bundesrepublik genieße, schilderte den Zusammenbruch der Staatsautorität in der DDR, erwähnte die 300.000 Übersiedler im Jahr 1989, davon „200.000 unter 30 Jahren“, erläuterte die Währungsunion: „Mit Nachdruck stellte der Bundeskanzler fest, dass eine Neutralisierung mit der Bundesregierung nicht durchsetzbar sei. Dies wäre darüber hinaus eine historische Dummheit. Die Geschichte habe gezeigt, dass es ein Fehler sei, Deutschland nach 1918 unter einen Sonderstatus zu stellen.“ Die Einheit stehe auf der Tagesordnung: „Gorbatschow selbst habe einmal gesagt: ,Wer zu spät komme, den bestrafe das Leben.‘“

          Kohl redete über die internationale Einbettung der Einheit, über den Moskauer und den Warschauer Vertrag, die „nach Herstellung der staatlichen Einheit erneut bestätigt werden“ müssten. „Werde die Bundesrepublik verschwinden, fragte Generalsekretär Gorbatschow. Habe der Bundeskanzler keine Angst davor, fügte der Generalsekretär lächelnd hinzu. Dann werde der Bundeskanzler die Bundesrepublik also begraben!? Dies werde dann kein Schaden sein, erwiderte der Bundeskanzler.“

          Gorbatschow urteilte, dass es „zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsunterschiede über die Einheit gebe und über das Recht der Menschen, die Einheit anzustreben und über die weitere Entwicklung zu entscheiden.“ Die Deutschen müssten „ihre Wahl selbst treffen“: „Der Bundeskanzler bekräftigte, dass die Entscheidung für die Einheit eine deutsche Angelegenheit sei.“ Als mehr oder weniger einziges offenes Problem bezeichnete er die Oder-Neiße-Frage; für eine Regelung erhoffe er, „auch die innere Zustimmung der großen Mehrheit der betroffenen Deutschen zu erhalten“.

          Kohl war wie elektrisiert

          Gorbatschow sagte nichts anders, als was er vorher Baker schon eingeräumt hatte. Doch jetzt hörte Kohl es selbst, war wie elektrisiert. Nach dem Kreml-Ja zum Selbstbestimmungsrecht fand von 18.40 Uhr bis 19.15 Uhr eine erweiterte Delegationsrunde statt. Hier wurden sogar Möglichkeiten einer Zusammenarbeit im Weltraum erörtert: „Generalsekretär Gorbatschow unterstreicht, gerade dies charakterisiere das Niveau der Zusammenarbeit: Kooperation im Kosmos sei ein Beweis besonderen Vertrauens. Der Bundeskanzler pflichtet bei. Generalsekretär Gorbatschow beendet das Gespräch mit der Feststellung, nun habe man sein Abendessen verdient.“ Auf Drängen Teltschiks präsentierte Kohl das „historische Ergebnis“ den Journalisten, dankte für Gorbatschows Standpunkt, „dass es das alleinige Recht des deutschen Volkes ist, die Entscheidung zu treffen, ob es in einem Staat zusammenleben will“, dass die Deutschen „den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst“ bestimmen könnten: „Dies ist ein guter Tag für Deutschland und ein glücklicher Tag für mich persönlich.“

          Die Zeitungen machten am 12. Februar auf mit „Grünes Licht Moskaus für die deutsche Einheit“, „Moskau gibt Deutschlandpolitik auf“ oder „Gorbatschow gibt den Weg zur Einheit frei“. An diesem Tag setzte Gorbatschow in einem Telefonat Modrow über die Besuche von Baker und Kohl in Kenntnis. Modrow bat um Moskaus Unterstützung bei den Verhandlungen mit Kohl. Darauf ging Gorbatschow gar nicht ein, sondern wünschte ihm nur viel Glück. Für den Generalsekretär besaßen weder der Ost-Berliner Ministerpräsident noch der Arbeiter-und-Bauern-Staat auf ostdeutschem Boden eine Zukunft.

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