Verkehrswende-Initiative : Mehr Fahrrad wagen
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Zwei Dinge braucht es für die Verkehrswende: Geld und Platz. Beides ist knapp. Bild: dpa
Alle 22 Stunden stirbt in Deutschland ein Radfahrer. Nun gründen sich in vielen Städten Rad-Initiativen. Sie wollen die Politik zum Umdenken zwingen.
Maurice wurde nur sieben Jahre alt. Am ersten Schultag nach den Pfingstferien stirbt der Junge auf dem Weg zur Grundschule in Köln-Widdersdorf. Er fährt um kurz vor acht Uhr auf dem Rad hinter seinem Vater, als ein Müllwagen nach rechts in eine verkehrsberuhigte Stichstraße abbiegt. Der Fahrer des Wagens lässt den Vater die Straße passieren, fährt dann aber wieder an. Maurice wird vom rechten Hinterrad überrollt und eingeklemmt. Der eingeflogene Notarzt kann ihm nicht mehr helfen.
Nur wenige Tage später wird in Leipzig ein 53 Jahre alter Radfahrer von einem Betonmischer erfasst. Der ist aus einer Baustelle in die Rosa-Luxemburg-Straße eingebogen und überrollt den Mann von hinten. Der Radfahrer ist sofort tot. Mitte Juni, Berlin-Spandau: Ein Lkw biegt rechts ab und überfährt einen acht Jahre alten Jungen. Das Kind war auf seinem Schulweg bei Grün über die Kreuzung gefahren. Es stirbt noch an der Unfallstelle – vor den Augen seiner Mutter.
Fälle wie diese gehören zum Alltag in Deutschland. Alle 22 Stunden stirbt ein Radfahrer, alle 36 Minuten wird einer schwer verletzt. Ist das nur menschliches Versagen, sind das unabwendbare Einzelfälle? Oder könnten viele dieser Unfälle verhindert werden, wenn es mehr sichere Radwege und Kreuzungen gäbe?
Davon sind jedenfalls die Initiatoren der Radentscheide überzeugt, die nun in vielen deutschen Städten eine Verkehrswende erreichen wollen. Von Aachen über Bielefeld bis München schließen sich Bürger zusammen, die diese Zustände nicht länger hinnehmen wollen, und treiben Politiker mit Volksinitiativen und Bürgerbegehren vor sich her. Das größte Bündnis dieser Art ist am Wochenende in Nordrhein-Westfalen gestartet. Mit der Konferenz „Radkomm“ am Samstag und einer Fahrrad-Sternfahrt in die Kölner Innenstadt am Sonntag hat die Volksinitiative „Aufbruch Fahrrad“ ihre Unterschriftensammlung eingeleitet. Innerhalb eines Jahres müssen mindestens 66.000 Unterstützer gezeichnet haben, damit sich der Landtag mit der Sache befasst. Der soll ein Radgesetz entwerfen, das die neun Forderungen der Initiative umsetzt, unter anderen: 1000 Kilometer Radschnellwege für den Pendelverkehr, 300 Kilometer neue überregionale Radwege pro Jahr und kostenlose Mitnahme im Nahverkehr.
Ein logistischer Kraftakt
Ganz vorne unter den Forderungen: Mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen. „Sicherheit bedeutet, dass Sie ihr neun Jahre altes Kind allein durch die Stadt schicken könnten“, sagt die Organisationsberaterin Ute Symanski, Initiatorin und Vertrauensperson der Bewegung, einer beispiellosen Allianz aus etwa 80 Vereinen, Verbänden und Bürgerinitiativen. Konkret könnte das erreicht werden, indem an Kreuzungen Aufstellflächen markiert würden, auf denen sich Radfahrer gut sichtbar vor den Autos positionieren. Es könnten Kreuzungen wie in den Niederlanden entstehen, in denen Rechtsabbieger Radfahrer, die sonst im toten Winkel verschwinden, besser sehen. Oder vom Autoverkehr getrennte breite Radwege, die nicht mehr zugeparkt werden können, und möglichst kreuzungsfrei geführt werden, wie in Kopenhagen. Laut Statistiken ereignen sich etwa 70 Prozent aller innerstädtischen Radunfälle an Kreuzungen, Einmündungen und Zufahrten. Und in drei von vier Fällen trägt der unfallbeteiligte Autofahrer die Hauptschuld.
Aber die Initiative will mehr erreichen, und zwar eine „Mobilitätswende“ als Antwort auf Stickoxide, Feinstaub, Autolärm, Stau und verstopfte Innenstädte. „Statistiken zeigen, dass ein Großteil aller Autofahrten unter fünf Kilometer lang ist“, sagt Symanski. „Wenn all diese Leute aufs Rad umstiegen, wie leer würden dann unsere Straßen sein.“ Kopenhagen und die Niederlande machten seit Jahren vor, wie das gehe. Und tatsächlich steigt auch die Zahl der Radfahrer in deutschen Städten seit Jahren stark. Mittlerweile wird schon die Aufstellfläche an Ampeln knapp.
Die Volksinitiative wird ein logistischer Kraftakt, die Hürden sind hoch. Denn um die Unterschriften von den Wahlämtern prüfen zu lassen, muss jede Liste der betreffenden Gemeinde vorgelegt werden. In NRW gibt es fast vierhundert selbständige Gemeinden. Erst danach können die Unterschriften dem Landtag überreicht werden. Doch das Ziel „100.000 plus X Unterschriften“ scheint erreichbar. Auch anderswo in Deutschland waren ähnliche Initiativen schon erfolgreich.
Alles begann 2016 in Berlin. 105.425 Unterschriften sammelte die Gruppe „Volksentscheid Fahrrad“ innerhalb weniger Wochen – mehr als fünfmal so viele wie nötig. Zum Volksentscheid kam es dann nicht, weil der rot-rot-grüne Senat mit den Initiatoren verhandelte und man sich auf ein „Mobilitätsgesetz“ einigte, das fast alle Forderungen aufnimmt, wenn auch in teils abgeschwächter Form. Ende Juni soll es im Abgeordnetenhaus beschlossen werden.
Ohne Geld und Platz keine Verkehrswende
Auch in Bamberg haben Bürger die Verkehrswende selbst in die Hand genommen. Bevor es zu einem Bürgerentscheid kam, machte sich die Stadt alle Forderungen zu eigen. In Darmstadt konnte eine Initiative dem Oberbürgermeister 11.282 Unterschriften für ein Bürgerbegehren übergeben – nötig waren nur knapp 3500. „Die Bürger haben uns die Listen geradezu aus den Händen gerissen“, sagt der Ingenieur und Mitinitiator David Grünewald. Der Radentscheid Frankfurt wird voraussichtlich in wenigen Tagen die notwendigen 15.000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt haben. In Hamburg, München, Kassel, Aachen und Bielefeld werden bereits weitere Radentscheide vorbereitet. Und in Bayern hat sich der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) dahinter geklemmt, dass das ambitionierte „Radverkehrsprogramm 2025“ der Staatsregierung tatsächlich umgesetzt wird. Es sieht vor, dass im „Radlland Bayern“ der Radverkehrsanteil bis zum Jahr 2025 auf 20 Prozent verdoppelt wird. „Dafür braucht es aber verbindliche Vorgaben für die Verwaltung“, sagt der stellvertretende ADFC-Landesvorsitzende Rauno Fuchs. „Sonst passiert nichts.“ Eine Unterschriftensammlung ist in Bayern indes nicht geplant und womöglich auch nicht nötig. „Wir haben schon Zusagen von allen im Landtag vertretenen Parteien, dass sie ein Radgesetz unterstützen würden“, sagt Fuchs.
Zwei Dinge braucht es für die Verkehrswende: Geld und Platz. Beides ist knapp. In Berlin haben die Aktivisten durchgesetzt, dass die jährlichen Investitionen in den Radverkehr von 14 auf 50 Millionen Euro mehr als verdreifacht werden – ein enormer Sprung. Und trotzdem wenig im internationalen Vergleich. So investiert Oslo je Einwohner fast 70 Euro in den Radverkehr, in Berlin sind es – nach der Erhöhung – knapp 13,50 Euro. In anderen deutschen Städten sieht es noch viel schlechter aus. Hamburg hat die Investitionen im Rahmen seiner Radverkehrsstrategie von 2008 bis 2014 auf rund 6,30 Euro „erhöht“.
Eine Mobilitätswende braucht aber auch Platz, und das ist wohl der größte Knackpunkt. Denn wo Radfahrer mehr bekommen sollen, müssten Autofahrer davon abgeben. „In den Köpfen steckt immer noch: Die Straße gehört den Autos“, sagt Ute Symanski. „Ich möchte, dass sie allen Menschen gehört. Die Straße ist ein öffentlicher Raum.“ Dass mehr Radfahrer den Stadtverkehr insgesamt entlasten würden, das mag wohl nicht jeden Autofahrer trösten, wenn ihm eine von zwei Fahrspuren oder auch Parkplätze genommen werden. Andererseits fällt der Widerstand der Autolobby verhalten aus. Nach einer Position zu den vielen Radentscheiden befragt, schickt der ADAC eine Pro- und Contra-Liste. Auch der Autoclub gesteht den Initiativen zu, dass sie die öffentliche Wahrnehmung von Verkehrsthemen verbessern und „Handlungsdruck bei ,autozentrierter‘ Kommunalpolitik“ aufbauen. Auf der Gegenseite steht, die vorgeschlagenen Maßnahmen seien „teilweise visionär und zu pauschal“. Außerdem heißt es: „Radentscheide bergen die Gefahr der weiteren Polarisierung der Verkehrsteilnehmergruppen und begünstigen damit eine Verschlechterung des Verkehrsklimas.“
Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker zeigte sich der Volksinitiative in Nordrhein-Westfalen gegenüber grundsätzlich aufgeschlossen. Nach ihren Recherchen, so Reker bei der Auftaktveranstaltung am Samstag, habe die Stadt Kopenhagen vor fünfzehn Jahren mit der Verkehrswende begonnen. „Es gibt hier eine andere Situation, und Wunder können wir nicht vollbringen.“ Und doch dürfe es nicht sein, dass Radwege im Nichts endeten. „Und wenn es in Paris geht, ein Seine-Ufer für den Autoverkehr zu sperren, dann geht das in Köln auch.“