„Querdenken“-Bewegung : Eine neue Form des Extremismus
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Angriff auf den Reichstag am 29. August 2020: Ein Polizist im Einsatz gegen Anhänger der „Querdenker“-Szene, die Absperrungen vor dem Bundestag durchbrochen haben. Bild: Fritz Engel/laif
Führende „Querdenker“ zielen auf eine systematische Delegitimierung des Staates. Der Verfassungsschutz schafft dafür jetzt eigens eine neue Kategorie – und beobachtet Teile der Bewegung.
Dass Kritik gegen die Maßnahmen der Bundesregierung auch und gerade in der Pandemie möglich, ja wünschenswert sei, beteuern Politiker seit einem Jahr. Auch Horst Seehofer wiederholte am Mittwoch diesen Gemeinplatz der Demokratie: Friedfertige Menschen könnten auf die Straße gehen und ihre Position vertreten, „auch wenn sie diametral zu unserer Politik steht“, sagte der Bundesinnenminister. „Aber immer dann, wenn die Extremisten die Bühne betreten und versuchen, sich solcher Bewegungen zu bemächtigen, oder wenn Gewalt im Spiel ist, gilt unser Grundsatz: null Toleranz.“
Gemeint sind Personen und Gruppen innerhalb der „Querdenker“-Bewegung. Am Mittwoch teilte das Bundesinnenministerium mit, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Teile der Bewegung beobachte. Die Beamten dürfen dabei auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen, etwa Telefone überwachen oder, sofern Gewalt droht, auch V-Leute ansprechen.
„Querdenker“-Szene sehr heterogen
Das ist durchaus möglich, schließlich hatte es jüngst bei Demonstrationen Angriffe auf Polizisten und Journalisten gegeben. Allerdings werden die Verfassungsschützer nicht jede Person, die zur „Querdenker“-Szene zugeordnet werden könnte, überwachen, sondern nur solche, bei denen es tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen gibt.
Bereits im Dezember hatte das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, wo die „Querdenker“-Bewegung ihren Ursprung hat, die Beobachtung der Bewegung eingeleitet, andere Landesämter folgten. Auch das Bundesamt prüfte, worüber die Behörde aus rechtlichen Gründen aber nicht sprechen durfte. Die „Querdenker“-Szene einzuschätzen ist schwierig, denn es ist keine abgeschlossene Gruppe, es gibt schon gar nicht so etwas wie Mitgliedschaft. Zudem sind die „Querdenker“ sehr heterogen: Hier finden Esoteriker und Impfgegner, aber auch antisemitische Verschwörungstheoretiker, Rechtsextremisten und „Reichsbürger“ zusammen.
Aus Sicht des Verfassungsschutzes gehen von dieser Szene seit Beginn der Pandemie Angriffe auf die demokratische Grundordnung und staatliche Einrichtungen wie Parlamente und Mitglieder der Regierung aus. „Demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative werden in sicherheitsgefährdender Art und Weise delegitimiert und verächtlich gemacht“, teilte das Bundesinnenministerium mit. Dafür würden Verschwörungsmythen wie „QAnon“ oder andere antisemitische Ressentiments bemüht. Verschwörungstheorien seien ein nahezu durchgängig festzustellendes Phänomen.
Tatsächlich gingen Teilnehmer bei „Querdenker“-Protesten schon mit Symbolen populärer Verschwörungserzählungen auf die Straße, etwa von „QAnon“. Die Anhänger glauben unter anderem an die Existenz einer weltweit agierenden, satanistischen Elite, die Kinder entführe, foltere und ermorde. Einzelne Teilnehmer von Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen gingen auch mit „Judensternen“ auf die Straße.
Aus Sicht der Sicherheitsbehörden werden legitime Proteste und Demonstrationen gegen die Corona-Politik instrumentalisiert und Eskalationen provoziert. Anmelder und Organisatoren von Demonstrationen – vor allem die Protagonisten der „Querdenker“-Bewegung – zeigten zum Teil deutlich, dass ihre Agenda über die reine Mobilisierung zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen hinausgehe.
Verbindungen zu „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Organisationen sowie Rechtsextremisten würden in Kauf genommen oder gesucht, das Ignorieren behördlicher Anordnungen propagiert und letztlich das staatliche Gewaltmonopol negiert, teilte das Bundesinnenministerium mit. Solches Vorgehen ziele darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und ihre Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern.
Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“
Auch wenn sich Rechtsextremisten und „Reichsbürger“ unter die „Querdenker“ mischen, passt die Bewegung in keine der Kategorien von Extremismus, mit denen der Verfassungsschutz bislang arbeitet – neben Rechtsextremismus sind das der Linksextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus sowie „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“. Vor einem Jahr bereits gab es Überlegungen in Sicherheitskreisen, ob sich in der „Querdenker“-Szene eine neue Form des Extremismus entwickelt, für den es noch keinen Namen gibt, der aber ähnlich gefährlich ist wie die anderen Formen.
Nun ist es so weit: Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat einen neuen Phänomenbereich mit dem Namen „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ eingerichtet. Innerhalb dieses Bereichs gibt es als erstes Sammelbeobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“, dem die relevanten Akteure aus der „Querdenker“-Szene zugeordnet werden. Wie viele Menschen in diese neue Kategorie fallen, ist noch unklar.
Lob für diesen Schritt kam von der FDP. Der Obmann im Innenausschuss, Benjamin Strasser sprach von einem „konsequenten und notwendigen Schritt“. „Wir erleben seit Monaten eine zunehmende Radikalisierung und steigende gewalttätige Übergriffe. Diese reichen von Angriffen auf Polizeibeamte und Journalisten am Rande von Demonstrationen bis zu Anschlägen auf das Robert-Koch-Institut im vergangenen Jahr.“
Auch Strasser sieht mit „Querdenken“ einen „Extremismus ganz neuer Art“, dessen Motto zu sein scheine: „Demokratieverächter aller Lager, vereinigt euch!“ Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem der Demokratie müsse genau hinschauen und die zentralen Akteure auf dem Radar behalten, so Strasser.