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Kommentar : Die Grünen in der Krise

Zwei Grüne machen Wahlkampf: Noch-Oberbürgermeister Dieter Salomon steht Anfang Mai zusammen mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann vor dem Freiburger Rathaus. Bild: dpa

Abgewählt wurde in Freiburg nicht nur Dieter Salomon, sondern auch grün-schwarzer Inhalt. Das Ergebnis sollten die Grünen nicht als Denkzettel verharmlosen. Es muss Auswirkungen auf ihre Politik haben.

          3 Min.

          Das einstige Zukunftsmodell Grün-Schwarz steckt in der Krise. In Hessen sind die Chancen eher gering für eine Zweitauflage der schwarz-grünen Koalition. In Baden-Württemberg verhakten sich Grüne und Schwarze vor zwei Wochen über eher nachrangige Themen so stark, dass das Bündnis wohl am Ende gewesen wäre, wenn es für die CDU eine halbwegs vernünftige Koalitionsalternative gegeben hätte. Die Versöhnung des Bürgertums mit der einst gegen das Establishment gegründeten Öko-Partei ist im Regierungsalltag nicht so einfach wie bei Pizza und Pasta.

          Das liegt weniger an unüberbrückbaren programmatischen Gegensätzen. Erfahrene Politiker finden immer Kompromisse, auch gute. Zumindest in Baden-Württemberg sind Krisenursachen auch die Zerstrittenheit der CDU, das Fehlen eines guten Managements sowie das Erstarken der AfD, das die CDU unter Druck setzt. Auftrieb hätte die „bürgerliche Komplementärkoalition“ durch eine Jamaika-Koalition im Bund bekommen können – aber daraus wurde bekanntlich nichts.

          Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs und einer der leidenschaftlichsten Verfechter schwarz-grüner Bündnisse, sagte am Wochenende, dass die von ihm geführte Regierung „ernsthaft bedroht“ gewesen sei. Die Niederlage Dieter Salomons bei der Oberbürgermeisterwahl in Freiburg ahnte Kretschmann da vielleicht schon. Ein bislang unbekannter, von der SPD unterstützter Kandidat, deklassierte den erfahrenen Amtsinhaber Salomon aus dem Nichts heraus. Und das in Freiburg, der Ökotopia-Stadt mit stabilen grünen Wählermilieus.

          Die Grünen retten sich nun damit, dass sie auf die lokale Bedeutung der Persönlichkeitswahl hinweisen. Das ist aber die handelsübliche weiße Salbe, mit der Niederlagen zugekleistert werden. Das ausgeprägte Selbstbewusstsein Salomons mag für die Niederlage eine Rolle gespielt haben, auch die moderne Wahlkampfführung des Herausforderers Horn. Entscheidend ist aber, dass 70 Prozent der Wähler für linke Kandidaten votierten und nur 30 Prozent für den konservativen grünen Amtsinhaber mit dickem Regierungsbonus.

          Abgewählt wurde nicht nur Salomon, sondern auch grün-schwarzer Inhalt, etwa die Sozial- und Wohnungsbaupolitik. Das Ergebnis lässt sich nicht als Denkzettel verharmlosen. Eine solche Wahl muss spürbare Auswirkungen auf die Landespolitik und die Entwicklung der Grünen haben. Die Nervosität in der Landesregierung dürfte zunehmen, die Kompromissfindung könnte noch komplizierter werden. Schon jetzt gibt es Streit darüber, ob es Fahrverbote geben sollte oder nicht.

          Die Wähler erleichterten die grünen Machtstrategen aber auch um einige Zukunftsvisionen: Dieter Salomon steht nicht mehr als Kretschmann-Nachfolger zur Verfügung, auch wenn er das angeblich nie wollte; für eine Partei ist es nie gut, wenn gute Führungsleute abgewählt werden. Und der Lieblingstraum der Grünen, sich zur Volkspartei zu entwickeln, ist einstweilen geplatzt wie eine Seifenblase.

          Ein Kretschmann-Nachfolger ist nicht in Sicht

          Als die Partei 2011 der CDU nach mehr als fünfzig Jahren die Staatskanzlei erfolgreich wegnahm, beschlossen einige Machtstrategen, die Grünen zur moderneren CDU zu machen. Nachdem man die Großstädte gewonnen hatte, wollte man auch auf dem Land zur stärksten Partei werden – auch daraus wird vorläufig nichts. Denn die Grünen haben es versäumt, sich über ihre eigene Zukunft Gedanken zu machen: Ein Nachfolger des erfolgreichen Ministerpräsidenten ist nicht in Sicht. Den Alterungsprozess der eigenen Partei und einiger ihrer Kernüberzeugungen haben die Grünen unterschätzt.

          Und im Alltag spüren sie, dass gutes Regieren über längere Zeiträume ziemlich anstrengend ist und auch nicht immer gelingt: Von fünf grünen Ministern arbeiten nur zwei geräuschlos. Die Wissenschaftsministerin kämpft mit einem Untersuchungsausschuss. Der grüne Verkehrsminister will mit aller Macht Fahrverbote. Viele inhaltliche Konflikte brechen nur nicht auf, weil die Steuereinnahmen sprudeln.

          Ein ehemaliger grüner Landesvorsitzender ist in der vergangenen Woche wegen des Stuttgarter Klinikskandals inhaftiert worden, der Skandal ist das Ergebnis grüner Regierungspolitik, wenn auch auf lokaler Ebene. Den Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn treibt seit Monaten eine Bürgerinitiative mit dem (urgrünen) Thema Stadterneuerung vor sich her. Kuhn könnte es einmal so gehen wie Salomon. Boris Palmer in Tübingen hat sich mit Äußerungen zur Flüchtlingspolitik in seiner Partei völlig isoliert. Kretschmann führt seine Staatskanzlei, aber in der Landespartei und in der Landtagsfraktion zeigt sich immer stärker ein Führungsvakuum.

          Was bringt die nächste Zukunft? Eine Koalition aus CDU, SPD und FDP ist aus Sicht der Grünen im Moment nur eine Drohkulisse, denn sie wird nur von der FDP gewollt. Die CDU ginge ein hohes Risiko ein, wenn sie einen erfolgreichen Ministerpräsidenten stürzen würde. Sicher ist aber: Scheitert Grün-Schwarz im südlichen Musterland, dann stünden die Grünen vor einer programmatischen Generalrevision. Nicht nur im Südwesten.

          Rüdiger Soldt
          Politischer Korrespondent in Baden-Württemberg.

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