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Mit den Stimmen der AfD : Wie Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt wurde

  • -Aktualisiert am

Bodo Ramelow und Susanne Hennig-Wellsow am Mittwoch im Thüringer Landtag, nachdem das Ergebnis des dritten Wahlgangs bekanntgegeben wurde. Bild: AFP

In Erfurt waren alle darauf vorbereitet, dass Bodo Ramelow wieder Ministerpräsident wird. Doch dann fehlte ihm eine Stimme – und der FDP-Politiker Thomas Kemmerich wurde vereidigt. Der berichtet später von Drohanrufen.

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          Es ist kurz vor 13.30 Uhr, als die Thüringer Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linke) die Zahl der abgegebenen Stimmen im dritten Wahlgang verliest: 90 Abgeordnete haben abgestimmt, 90 Stimmen sind gültig, es gibt eine Enthaltung. Für Bodo Ramelow, den Kandidaten von Linke, SPD und Grünen, haben 44 Abgeordnete gestimmt – zwei mehr als die Koalition Abgeordnete hat. Das müsste locker reichen, wenn sich die restlichen Stimmen auf seine beiden Gegenkandidaten verteilen, also auf Christoph Kindervater, den die AfD aufgestellt hat, und Thomas Kemmerich von der FDP.

          Stefan Locke
          Korrespondent für Sachsen und Thüringen mit Sitz in Dresden.

          Doch dann kommt, was den ganzen Vormittag schon in der Luft lag: „Christoph Kindervater null Stimmen, Thomas Kemmerich 45 Stimmen“, verliest Keller. Riesenjubel brandet nur bei der AfD auf, nicht bei CDU und FDP, schon gar nicht bei den Linken, SPD und Grünen. Denn damit heißt der neue Thüringer Ministerpräsident Thomas Kemmerich, der mit seiner Partei im Oktober mehrere Tage lang um den Einzug in den Landtag bangen musste. Sie kam am Ende nur denkbar knapp über die Fünfprozenthürde und regiert nun das Zwei-Millionen-Einwohner-Land.

          Kemmerich nimmt die Wahl umgehend an. Später wird er sagen, er habe damit keine Minute gezögert. Als erste Gratulantin geht die Vorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, mit Blumen auf Kemmerich zu und wirft sie ihm vor die Füße: „Ich schäme mich für Sie, Sie sind kein Demokrat!“ Nach einer angedeuteten Verbeugung zieht sie wieder von dannen. Danach verlässt die Fraktion der Linken umgehend den Plenarsaal; die Enttäuschung bei ihnen wie bei SPD und Grünen ist riesig. Der nun ehemalige Ministerpräsident Bodo Ramelow verlässt umgehend den Landtag, sein mühsam aufgebautes Projekt einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung ist dahin. Erst am Dienstag hatten Linke, SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag in Erfurt unterschrieben, vor der Wahl waren alle drei Parteien zuversichtlich. Und dann das.

          „Diese Situation ist vom Wähler nicht gewünscht“, erklärte Hennig-Wellsow kurz darauf vor Journalisten. „Ich schäme mich für Kemmerich und Mohring, dass sie das zugelassen haben.“ CDU und FDP hätten den demokratischen Konsens verlassen und das Land „von langer Hand geplant“ den Rechtsextremen ausgeliefert. „Kemmerich ist ein Ministerpräsident von Gnaden der Rechten.“ Thomas Kemmerich tritt diesem Eindruck am Nachmittag bei seiner ersten Pressekonferenz vehement entgegen. „Ich bin Anti-AfD, und ich bin Anti-Höcke“, sagt er. „Wir haben keine Absprache mit der AfD, und wir werden keinerlei Politik mit der AfD betreiben, in keiner erdenklichen Form.“

          Das bedeute auch, dass es keine Angebote an die AfD und auch keine Koalition mit und keine Minister von ihr geben werde. Auf Fragen, wie er die AfD-Stimmen zu seiner Wahl bewerte, antwortete er: „Ich habe mich einer geheimen Abstimmung gestellt. Das ist das gute Recht eines jeden Demokraten.“ Das sehen allerdings nicht alle so. Vor dem Landtag gibt es am Nachmittag Spontandemonstrationen gegen Kemmerich, etwa 500 Menschen pfeifen und trommeln jetzt dort, wo noch am Vormittag lediglich fünf Leute mit zwei Transparenten gegen Ramelow demonstriert hatten.

          Auch im Plenarsaal ist die Stimmung aufgeheizt, als Kemmerich 15.30 Uhr ans Rednerpult tritt. Insbesondere Abgeordnete der Linken unterbrechen immer wieder seine kurze Rede, reagieren mit Verbalinjurien – die Enttäuschung, das rot-rot-grüne Projekt einer Minderheitsregierung beenden zu müssen, bricht sich nun überall Bahn. „Es geht um Thüringen“ und „Die Arbeit beginnt jetzt“, sagt Kemmerich ruhig und dankt Ramelow ausdrücklich für seine Arbeit in den vergangenen fünf Jahren. „Heuchler!“, schallt es ihm von der linken Seite des Parlaments entgegen.

          Noch am Morgen hatte Ramelow in der FDP-Fraktion für sich geworben und um eine gute Zusammenarbeit unter Demokraten gebeten. Jetzt ist die Lage um 180 Grad gedreht, nun muss die Linke beweisen, dass sie auf demokratische Weise mit Kemmerich zusammenarbeiten kann. Denn auch unter dem FDP-Regierungschef wird es eine Minderheitsregierung in Thüringen geben, da AfD und Linke zusammen mehr als die Hälfte aller Parlamentssitze einnehmen. Für künftige Mehrheiten ist die Kemmerich-Regierung entweder auf die Linke oder die AfD angewiesen. FDP-Chef Christian Lindner habe ihn kurz angerufen, gratuliert und dafür alles Gute gewünscht, sagte der neue Thüringer Regierungschef.

          Drohanrufe nach der Vereidigung

          Kemmerich bot CDU, SPD und Grünen an, mit ihm zusammenzuarbeiten und eine Koalition der demokratischen Mitte zu bilden, um die Spaltung des Landes zu überwinden. Vor Journalisten berichtet Kemmerich am Nachmittag von Drohanrufen und Hass-Tiraden, die ihn bereits kurz nach seiner Wahl erreichten. Kemmerich ist bisher kaum bekannt in Thüringen. Erst in der vergangenen Woche hatte eine Umfrage dagegen noch einmal gestiegene Beliebtheitswerte für Bodo Ramelow ergeben; fast drei Viertel der Thüringer sagten demnach, dass er ein guter Regierungschef sei, und das fanden auch die Anhänger aller Parteien außer der AfD so. Auch die Linke hatte in Umfragen nochmals zugelegt, ebenso wie FDP und Grüne. Einzig verloren dagegen hatte abermals die CDU, die nur noch 19 Prozent der Thüringer wählen würden.

          Thomas Kemmerich, Thüringens neu gewählter Ministerpräsident
          Thomas Kemmerich, Thüringens neu gewählter Ministerpräsident : Bild: dpa

          Die CDU hatte seit der Wahlniederlage und dem Verlust von zwölf Prozentpunkten einen Zickzackkurs zwischen einer Zusammenarbeit mit der Linken oder der AfD gefahren und sich vor allem stets alle Optionen offengehalten. Der Landesvorsitzende der CDU, Mike Mohring, erklärte am Mittwoch, für die eingetretene Lage nicht verantwortlich zu sein. „Wir sind nur für unser eigenes Abstimmungsverhalten zuständig“, erklärte er, und dass seine Fraktion das gemacht habe, was sie vor der Abstimmung gesagt habe: Ramelow nicht zu wählen. Stattdessen habe man sich „als Partei der Mitte für den Kandidaten der Mitte entschieden“. Nun werde seine Fraktion sich Kemmerichs Vorschläge anhören und danach bewerten.

          Kemmerich war in den ersten beiden Wahlgängen, in denen die absolute Mehrheit für die Wahl zum Regierungschef erforderlich war, nicht angetreten. Stattdessen traten nur Bodo Ramelow und der parteilose Dorfbürgermeister Christoph Kindervater für die AfD an. Im ersten Wahlgang entfielen von 90 gültigen Stimmen 43 auf Ramelow und 25 auf Kindervater, 22 Abgeordnete enthielten sich. Damit hatte Rot-Rot-Grün eine Stimme mehr als sie über eigene Abgeordnete verfügen, die AfD hatte drei Stimmen mehr. Im zweiten Wahlgang wandelte sich das Bild nur unwesentlich: 44 Stimmen für Ramelow, 22 für Kindervater, 24 Enthaltungen. 46 Stimmen aber wären nötig gewesen.

          Kemmerich will die SPD-Minister im Amt belassen

          Somit war klar, dass die Wahl in einem dritten Wahlgang entschieden werden würde. Diesmal kandidierte – wie angekündigt – Thomas Kemmerich für die FDP; zuvor hatte die CDU-Fraktion am Abend beschlossen, in diesem Fall für Kemmerich stimmen zu wollen. Einen eigenen Kandidaten stellte die CDU nicht auf; mutmaßlich um Kemmerichs Chancen zu erhöhen. Denn was dann passierte, zog sich bereits als Gerücht durch den Erfurter Landtag: dass die AfD in diesem Fall ihren eigenen Kandidaten, der auf der Zuschauertribüne saß, fallenlassen und für Kemmerich stimmen würde.

          Damit ist die politische Lage in Thüringen wieder völlig offen. Thomas Kemmerich ist nach Reinhold Maier, dem ersten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, der zweite Regierungschef der Liberalen in einem Bundesland. Und er löst mit seinem Schachzug ein, was er vor der Wahl großflächig plakatiert hatte: Rot-Rot-Grün zu beenden. „Ich kandidiere nicht, um bestimmten Personen zu Ministerämtern zu verhelfen, sondern um Rot-Rot-Grün abzulösen“, sagte er vor der Wahl am Mittwoch und erklärte nebenbei, dass dabei nicht einmal alle Minister ausgetauscht werden müssten. Die der SPD zum Beispiel, die zurzeit für Finanzen, Inneres und Wirtschaft zuständig sind, würde er gerne im Amt belassen. Die Sozialdemokraten wiesen das umgehend zurück.

          Thüringen wird nun noch länger auf eine Regierung warten müssen. Die Tagesordnungspunkte „Vereidigung der Minister“ und „Erste Kabinettsitzung“ wurden am Nachmittag gestrichen, danach beantragte Kemmerich für die FDP-Fraktion, die Landtagssitzung zu vertagen. Linke, SPD und Grüne stimmten dagegen, nur bei FDP, CDU und AfD gingen alle Hände nach oben. „Damit ist die Sitzung bis auf weiteres vertagt“, stellte Präsidentin Keller nüchtern fest.

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