SPD-Migrantenquote : Spitze des Fortschritts, ganz dicht am Abgrund
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An der Spitze des Fortschritts? Der SPD-Vorsitzende Gabriel neben dem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier Bild: dpa
Sigmar Gabriels Versuch, mit einer Migrantenquote die Sarrazin-Debatte in der SPD zu beenden, ist missglückt. Eine Rebellion im Vorstand der Partei blieb nur deshalb aus, weil der Vorsitzende nicht weiter beschädigt werden durfte.
Sigmar Gabriel wollte an der Spitze des Fortschritts marschieren. Als die SPD-Führung am vergangenen Montag dem Parteivorstand den Beschlussvorschlag vorlegte, mit dem sich die Bundespartei das Ziel setzt, künftig in allen Führungsgremien 15 Prozent Mitglieder „mit Migrationshintergrund“ zu haben, dachte der Parteivorsitzende, ihm gelinge nach neun Monaten der Schockstarre endlich ein Befreiungsschlag. Tatsächlich aber grub er das Loch, in dem er seit der von ihm betriebenen Eröffnung des Ordnungsverfahrens gegen Thilo Sarrazin sitzt, nur noch tiefer.
Drei Stunden debattierte der Parteivorstand über das strittige Verfahren gegen die ebenso strittige Einigung mit Sarrazin, um sich dann der vermeintlichen Quote zu widmen. Als solche hatte Gabriel sie zuvor noch in der Öffentlichkeit bezeichnet. Auch Kenan Kolat, der Vorsitzende des SPD-Arbeitskreises Integration und Migration, der zu Beginn der Sitzung als nicht-stimmberechtigtes Mitglied des Parteivorstandes kooptiert worden war, befürwortete eine Satzungsänderung mit einer verbindlichen Quote.
Nach einem Gespräch mit Generalsekretärin Andrea Nahles war in der Beschlussvorlage allerdings nur noch von einem „zu erarbeitenden Konzept“ die Rede und von „Instrumenten wie z.B. Selbstverpflichtungen oder Quotenregelungen“.
„Negativer Arier-Nachweis“
Dass am Ende nur zwei Sozialdemokraten - Gabriels niedersächsische Parteifreunde Garrelt Duin und Wolfgang Jüttner - im Parteivorstand gegen den Beschluss stimmten, spiegelte nicht den Verlauf der Diskussion wider. Zahlreiche Genossen wiesen auf rechtliche und legitimatorische Probleme hin, einige mögen auch kalkuliert haben, dass ihre Chancen schwinden würden, wieder in den Vorstand gewählt zu werden, zumal das Gremium, dem 45 Genossen angehören, eher verkleinert als vergrößert werden soll.
Jüttner sagte, die Partei wecke abermals Erwartungen, die am Ende nur enttäuscht werden könnten. Duin berichtete von den Reaktionen seiner ostfriesischen Basis: Ob die Partei denn verrückt sei, werde er gefragt. In der Debatte fiel auch das Stichwort „negativer Arier-Nachweis“: Wie man denn bitte schön Einwanderung in der dritten Generation festzustellen gedenke? Mit dem Herausstreichen der ausländischen Herkunft führe die SPD am Ende eine ausgrenzende Debatte und bewirke das Gegenteil des Beabsichtigten. Ostdeutsche Sozialdemokraten verwiesen darauf, dass in ihren Ländern nur zwei Prozent der Bevölkerung einen „Migrationshintergrund“ hätten.
Die Debatte wurde nun grundsätzlich. Ohne es auszusprechen, wurden die Führungsqualitäten Gabriels in Frage gestellt: Der Beschluss sei nicht zu Ende gedacht, aus der Hüfte geschossen, hieß es später. Wie zu Beginn des Verfahrens gegen Sarrazin. „Typisch Gabriel eben“, sagte ein Mitglied des Parteivorstandes nach der Sitzung. Da diesem die Stoßrichtung der Kritik offenbar nicht verborgen blieb, drängte er vehement auf einen Beschluss. Mehrere Mitglieder folgten Gabriel am Ende nur, weil sie den Vorsitzenden nicht weiter beschädigen wollten.
Die Debatte geht derweil weiter: Der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion Thomas Oppermann, der den Schritt für notwendig hält, sagte am Mittwoch: „Die Quote hat nur einen Nachteil: Sie kommt zehn Jahre zu spät.“ Tatsächlich wollten Gabriel und Frau Nahles vor ihrer Wahl auf dem Dresdner Parteitag 2009 dafür sorgen, dass SPD-Mitglieder ausländischer Herkunft in den Parteivorstand gewählt würden. Damals freilich, nach dem Desaster der Bundestagswahl, hatte beide noch ganz andere Sorgen. So geriet das Vorhaben in Vergessenheit. Wieder einmal, denn die Partei diskutiert seit 20 Jahren über dieses Defizit.
Die Grünen migrationspolitisch überholen
Warum tut sich die SPD, einst die natürliche Fürsprecherin der Anliegen der „ausländischen Mitbürger“, wie es damals hieß, so schwer mit dieser Klientel? Warum muss sich die Partei, die sich seit jeher die Emanzipation benachteiligter Bevölkerungsgruppen auf die Fahne geschrieben hat, eine Selbstverpflichtung auferlegen? Warum muss sich Gabriel über den Coup der CDU ärgern, eine türkischstämmige Frau zur Landesministerin zu ernennen? Sarrazin ist Symptom nicht Ursache des Problems der SPD.
Gabriel selbst beklagt, dass seine Partei lange Zeit ein paternalistisches Verständnis von Integration hatte: Wer selbst den Anspruch hat, für die Anliegen von Einwanderern zu streiten, der braucht doch keinen als Aushängeschild in der Führungsriege, war lange die unausgesprochene Haltung. Hinzu kam, dass Einwanderer der ersten und zweiten Generation, die sich der SPD anschlossen, oft bildungsfernen Schichten entstammten. Wenn einer von ihnen ins Parlament gelangte, hatte er seinen Aufstieg nicht selten einer Gewerkschaft zu verdanken. Ein Betriebsratvorsitzender aus der Automobilindustrie eignet sich aber nicht in jedem Fall für die erste Reihe. Freilich: Offen sagen lassen sich derlei Dinge nicht.
Dass die dritte Einwanderergeneration, der oftmals ein sozialer Aufstieg gelang, sich vielfach nicht zur SPD hingezogen fühlte, hat mit dem Asylkompromiss der frühen neunziger Jahre zu tun. Als die SPD mit der christlich-liberalen Koalition für eine Änderung des Grundgesetzes stimmte, zog es viele akademisch gebildete Einwanderer zu den Grünen, wo sie es gänzlich ohne Quote bis in die Parteispitze schafften. Es ist kein Zufall, dass der baden-württembergische SPD-Vorsitzende Nils Schmid auf der Suche nach einer Integrationsministerin bei einer Berlinerin fündig wurde, die bis 2009 für die Grünen im Abgeordnetenhaus saß.
Um die Grünen migrationspolitisch zu überholen, musste aus Sicht Gabriels eine Quote her. Ganz gleich, was der SPD-Vorsitzende derzeit tut, seine Probleme werden dadurch nur noch größer.