Sinti und Roma : Europas größte Minderheit bleibt ausgegrenzt
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Zwei Blumenkränze von der Botschaft des Staates Israel und des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma liegen am Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas zwischen dem Brandenburger Tor und dem Reichstag. Bild: dpa
Während der NS-Zeit wurden mehr als 500.000 Sinti und Roma systematisch ermordet. Deutschland hat deshalb bei der Bekämpfung von Antiziganismus eine besondere Verantwortung. Ein Gastbeitrag von zwei Grünen-Politikern.
Der Bundesrat erinnert heute an die Opfer des Porajmos – der systematischen Vernichtung von mehr als einer halben Million Sinti und Roma während des Nationalsozialismus. Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR ignorierten lange das unermessliche Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen und schlossen sie von Entschädigungen aus. Wir wollen diesen Tag auch dafür nutzen, um daran zu erinnern: Die strukturelle Diskriminierung und Ausgrenzung Europas größter Minderheit besteht bis heute fort.
Vor zehn Jahren hat die Europäische Union eine Rahmenstrategie für nationale Strategien zur Integration der Roma beschlossen, die ein entschlossenes Handeln der EU-Mitgliedstaaten gegen die Ausgrenzung von Menschen mit Romno-Hintergrund einfordert. Der Begriff Menschen mit Romno-Hintergrund, im Englischen „romani background“, bezieht sich auf Menschen, die sich der Minderheit zugehörig fühlen oder neben ihrer Heimatsprache auch Romanes sprechen.
In Deutschland wird diese Gruppe an Menschen immer heterogener in Sprache, Kultur und Lebensart. In der zweiten Jahreshälfte 2020 und damit parallel zur deutschen Ratspräsidentschaft stellt die EU-Kommission die nächste Rahmenstrategie vor. Deutschland hat die Gelegenheit, den Kampf gegen Antiziganismus zu einer Priorität zu machen. Es könnte erreicht werden, dass sich die Mitgliedstaaten im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft zu verbindlichen und überprüfbaren Zielen, konkreten Maßnahmen und langfristigen Finanzierungen verpflichten.
Hass und Gewalt nehmen zu
Zum Schutz von Europas größter Minderheit ist die Bundesrepublik nicht nur durch das Grundgesetz, sondern auch durch internationale Abkommen, wie das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, verpflichtet. Nicht zuletzt hat Deutschland aufgrund der furchtbaren Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des NS-Regimes eine historische Verantwortung. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden und jahrhundertelang tradierte Rassismen in der deutschen Gesellschaft zu überwinden, genügt der jährliche Besuch von Würdenträgern an Mahnmälern nicht.
In Deutschland ist die Bilanz zehn Jahre nach Beginn der ersten Rahmenstrategie ernüchternd. Antiziganistische Hetze, Hass und Gewalt gegenüber Menschen mit Romno-Hintergrund nehmen zu. Jahrhundertealte Vorurteile dominieren weiter das Bild der Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Eklatante Diskriminierungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, im Gesundheits- und Bildungssystem, in Film und Fernsehen und auf der Straße gehören zum Alltag.
Erst in diesen Sommer strahlte der Sender Sat1 einen Dokumentarfilm aus, der nach einem Gutachten des Politikwissenschaftlers Hajo Funke Kriterien der Volksverhetzung erfüllt. Im Frühjahr beleidigte eine Frau in einer Berliner U-Bahn eine Gruppe von Menschen mit Romno-Hintergrund erst rassistisch und verletzte sie anschließend mit einem Messer.
Noch viel zu tun
Es war deshalb überfällig, dass die Bundesregierung mit der Anfang dieses Jahres eingesetzten „Unabhängigen Expertenkommission Antiziganismus“ die Bekämpfung von Antiziganismus auf hoher politischer Ebene verortet. Die Kommission erarbeitet aktuell einen Bericht, der Anfang 2021 präsentiert wird.
Doch auf anderen Ebenen erfolgen Fortschritte nur im Schneckentempo. Die Leitung der Antidiskriminierungsstelle bleibt wegen bloßer Parteiräson bereits mehr als zwei Jahre unbesetzt. Und durch die Umstrukturierung des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“ können viele innovative Modellprojekte gegen Antiziganismus ihre erfolgreiche Arbeit im neuen Jahr nicht fortsetzen.
Jugendorganisationen und -netzwerke müssen um ihre Finanzierung bangen. Ein unverständliches Vorgehen und – wenn man die erstarkenden rechtsextremen Gruppierungen in Deutschland und Europa beobachtet – extrem gefährlich. Eine entschlossene Unterstützung von Menschen mit Romno-Hintergrund sieht anders aus.
Es gibt viel zu tun: Die demokratische Zivilgesellschaft und Projekte gegen Antiziganismus brauchen eine bundesgesetzliche Grundlage für eine solide Strukturfinanzierung. Seit Jahren wird über ein Demokratiefördergesetz diskutiert. Doch bisher ist wenig passiert. Ein Bildungsfonds sowie Kultur- und Sprachförderung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Romno-Hintergrund müssen flächendeckend umgesetzt werden. Antiziganistische Übergriffe werden bislang zu häufig nicht erfasst. Es ist dringend notwendig, eine Monitoring- und Informationsstelle zur Erfassung von Antiziganismus einzurichten. Eine Repräsentanz von Selbstorganisationen der Minderheit in Rundfunkräten und Landesmedienanstalten könnte die Sensibilisierung für antiziganistische Inhalte in Film und Fernsehen erhöhen.
Die vielfältigen Perspektiven von Menschen mit Romno-Hintergrund müssen endlich in unseren Kulturinstitutionen, der medialen Berichterstattung und den Lehrplänen sichtbar werde. So stärken wir von Rassismus betroffene Menschen, aber auch unsere gesamte Gesellschaft und unser demokratisches Zusammenleben. Die Berufung eines EU-Beauftragten für Antiziganismus würde es erleichtern, die unterschiedlichen Regierungsebenen zusammenzubringen, den Austausch mit der Zivilgesellschaft vereinfachen und die öffentliche Repräsentation verbessern.
Unser Gedenken darf nicht nur mit Blumenkränzen erfolgen – sondern mit wirklicher Unterstützung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Der Handlungsbedarf ist riesig. Worauf warten wir noch?
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