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Sexueller Missbrauch : Eine Nummer gegen das Vergessen

Vor sieben Monaten stellte der Bischof von Trier, Stephan Ackermann, die Telefon-Hotline der katholischen Kirche vor

Vor sieben Monaten stellte der Bischof von Trier, Stephan Ackermann, die Telefon-Hotline der katholischen Kirche vor Bild: dapd

Seit dem Frühjahr können Opfer sexueller Gewalt in der Kirche über ihr Leid der Lebensberatung in Trier berichten. Ihre Geschichten zeugen nicht nur von den lebenslangen Folgen des Missbrauchs. Sie erzählen auch viel über die Täter.

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          Im März ging alles ganz schnell. Annähernd vier Wochen hatten die deutschen Bischöfe gebraucht, ehe sie Ende Februar angesichts einer Kaskade von Berichten über sexuelle Übergriffe von Geistlichen auf Kinder und Jugendliche ihre Sprache wiederfanden. Nur vier Wochen später saßen schon Dutzende Mitarbeiter der Lebensberatung im Bistum Trier am Telefon. Im Auftrag der Bischöfe hielten sie sich bereit, in zwei Schichten an jeweils drei Tagen der Woche Opfern sexueller Gewalt in der Kirche zuzuhören und sie in ihrer Not zu beraten.

          Daniel Deckers
          in der politischen Redaktion verantwortlich für „Die Gegenwart“.

          Die Resonanz der telefonischen „Hotline“ und der parallel angebotenen Beratung über Internet war im eigentlichen Sinn des Wortes überwältigend. Alleine in der ersten Woche wurden mehr als 18 500 Anrufversuche registriert, so dass es trotz des Einsatzes von bis zu zwanzig Beratern am Telefon und acht im Internet zunächst kaum möglich war, im ersten Anlauf einen Kontakt herzustellen. „Niemand hat damit gerechnet, dass sich so viele Opfer in so kurzer Zeit an die Hotline wenden würden“, sagt Andreas Zimmer, der Leiter der Lebensberatung. Warum auch? Schon im Jahr 2002 war sexueller Missbrauch in der Kirche über Monate hinweg in vielen Medien ausführlich thematisiert worden. Doch so wenig die erstmaligen Enthüllungen sexueller Übergriffe von Lehrern der Odenwaldschule im Jahr 1999 die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf das jahrelange Treiben von Päderasten an einer reformpädagogischen Vorzeigeschule lenkten, so schnell erstarben im Herbst 2002 Mutmaßungen über Art und Ausmaß über Vergehen katholischer Geistlicher an Kindern und Jugendlichen. Die Bischöfe fragten nicht, die Opfer schwiegen.

          Immer noch suchen Opfer Hilfe

          Wie und warum sich die gesellschaftlichen Dispositive im Winter des Jahres 2010 von denen im Herbst 2002 unterschieden, dürfte Soziologen noch lange beschäftigen. Gewiss ist nur, dass nach dem Appell des Jesuitenpaters Mertes an Opfer sexueller Übergriffe am Berliner Canisius-Kolleg ein „setting“ entstand, in dem sich ein öffentlicher Diskurs über sexuellen Missbrauch in der Kirche und bald darauf auch in der Odenwaldschule entwickelte. Gewiss ist aber auch, dass die Hotline der Bischofskonferenz, die Ende März ihre Arbeit aufnahm, das erste Angebot war, das sich an Opfer und deren Angehörigen richtete. Bis heute ist das Interesse an dieser Form der Erstberatung und der Vermittlung weiterführender Hilfen nicht erloschen. Zimmer berichtet von fünfzig bis siebzig Anrufen in der Woche.

          Die Beratungen selbst sind anonym und vertraulich. Sie werden lediglich nach fachlichen Standards statistisch erfasst. Dadurch sind sie geeignet, Licht in eines der größten Dunkelfelder der Kriminologie zu bringen. Denn in der kriminologischen Literatur gibt es bisher nur wenige Untersuchungen über Täter und Opfer auf dem Gebiet sexueller Gewalt. „Die Anhaltspunkte für die Prävention sexueller Gewalt wie die Betreuung von Opfern sind entsprechend dürftig“, sagt Zimmer. Auch weiß er zu berichten, dass sich viele Opfer den Beratern in der Hoffnung anvertrauen, dass sie mit ihren Berichten dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt besser als bisher verhindert werden kann. Und nicht zuletzt entspricht die Dokumentation der Beratungen dem Auftrag der Bischofskonferenz, Hinweise zur Frage der Prävention und zu dem, was bei der Betreuung von Opfern nötig ist, zu erhalten.

          Aussagen über die unterschiedliche Gefährdung der Mädchen und Jungen

          Mehr als 1100 Statistikbögen sind mittlerweile ausgewertet. Schon jetzt scheint es, dass manche Vermutung über sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche der Wirklichkeit nicht standhält. Zu korrigieren ist wohl die verbreitete Annahme, dass Mädchen einem größeren Risiko als Jungen ausgesetzt sind, Opfer sexueller Übergriffe zu werden. Jedenfalls war die Hälfte derer, die sich per Telefon oder Internet beraten ließen wie auch die Hälfte derer, die angaben, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein, männlichen Geschlechts. Dieses Verhältnis ändert sich zuungunsten der Mädchen nur, wenn der Tatort berücksichtigt wird: Im familiären Umfeld scheinen sich Männer eher an Mädchen als an Jungen zu vergreifen. In kirchlichen Räumen einschließlich des Beichtstuhls waren indes Jungen und Mädchen gleichermaßen gefährdet. Fast doppelt so hoch war das Risiko für Jungen in Internaten, gleich ob in staatlicher oder kirchlicher Trägerschaft.

          „In bisherigen epidemiologischen Dunkelfelduntersuchungen wurde eine durchschnittliche Geschlechterverteilung von 25 Prozent Männer zu 75 Prozent Frauen bei Opfern dokumentiert“, heißt es in einer ersten, vorläufigen Auswertung.

          Meist mehrfache und systematische Übergriffe

          Die Opfer und deren Angehörige, die sich der Hotline anvertraut haben, widerlegen diese Proportion. Mehr noch: Sie zeichnen auch ein signifikant anderes Bild der nahezu ausschließlich männlichen Täter. Denn von der hohen Zahl männlicher Opfer aus betrachtet sind die Täter wohl mehr als bisher im Kreis der Männer mit homosexuellen Neigungen zu suchen. Ihnen scheinen Einrichtungen, in denen sie in dauernder Nähe zu anderen Homosexuellen leben und Kindern und Jugendlichen aus einer überlegenen Position heraus begegnen, einen nahezu idealen Raum zu bieten, um sich als Päderast zu betätigen.

          Unter den Tätern dominieren indes nicht Personen, die infolge von Kontrollverlust übergriffig wurden. In vielen Berichten erscheinen Täter als Akteure, die langfristig denken und strategisch vorgehen. Nicht selten haben sie sich als Geistlicher absichtsvoll das Vertrauen der Minderjährigen und auch der Eltern erschlichen. Entsprechend wurden Kinder oder Jugendliche im Kontext der Kirche selten zufällig oder ein einziges Mal Opfer sexueller Übergriffe, sondern planvoll und mehrfach. „Nur 16 Prozent der Opfer berichten von einmaligen Übergriffen. Alle andere wurden mehrfach Opfer“, sagt Zimmer.

          Gewalt und Macht

          Für falsch hält der Leiter der Lebensberatung im Bistum Trier auch die Fixierung eines beträchtlichen Teils der Öffentlichkeit auf die zölibatäre Lebensform der Diözesanpriester. Der typische Täter, wie er in den Berichten der Opfer erscheint, ist nicht der junge Priester, der im Affekt oder aus Frustration handelt, sondern ein angesehener Mann in fortgeschrittenem Alter. Zimmer zieht daraus den Schluss, dass Prävention sich nicht darin erschöpfen kann, bei der Auswahl von Priesterkandidaten auf krankhafte Dispositionen wie Pädophilie zu achten. „Das Schlüsselthema ist meines Erachtens nicht Sexualität oder Zölibat, sondern Gewalt und Macht“, sagt Zimmer.

          Freilich konnten Geistliche ihre Macht und mitunter auch ihr Charisma dort umso eher missbrauchen, wo Kinder und Jugendliche schutzlos waren – auch oder gerade in Familien. Immer wieder hören die Berater, dass die Opfer als Kinder oder Jugendliche nicht fähig waren, die Gewalt, der sie ausgesetzt waren, in Worte zu fassen; und wenn sie doch sprachen, dass die Eltern sich nicht auf ihre Seite stellten. „Kinder stark machen“ zu wollen reiche nicht aus, sagt Zimmer. Wenn Opfer viele Anläufe nehmen müssten, um sich Gehör zu verschaffen, versage die Erwachsenenwelt.

          Fehlende Therapieangebote

          Nicht überraschen kann indes der Umstand, dass sie meisten Delikte vor Jahren, wenn nicht Jahrzehnten verübt wurden. Die meisten Opfer, die sich der Hotline oder dem Internet anvertrauten, waren zwischen 1950 und 1980 missbraucht worden. Straf- wie zivilrechtlich sind Missbrauchsdelikte aus dieser Zeit längst verjährt. Viele seelische Verletzungen sind jedoch nie verheilt, bis heute. Viele Opfer berichteten von Problemen in der Partnerschaft, die sie auch mit Hilfe von Therapeuten bislang nicht lösen konnten. Dieser Befund wirft nicht nur Fragen hinsichtlich der Kompetenz von Therapeuten und des Vermögens von Therapieformen auf, traumatisierten Personen gerecht zu werden. Angesichts des hohen Anteils männlicher Opfer und der oft fatalen Folgen sexuellen Missbrauchs für die Entwicklung der eigenen Sexualität und die Fähigkeit zur Partnerschaft gibt Zimmer daher zu bedenken, dass es an Therapieangeboten für Männer wie für Paare fehle.

          Dass es nicht nur, aber nicht zuletzt eine Erwartung von Opfern an Kirche ist, diesem Mangel abzuhelfen, zeigt sich für Zimmer ebenfalls in den bisher vorliegenden Daten. Neun von zehn Anrufern waren katholisch, und nur wenige haben die Kirche verlassen. Und: „Ein Drittel der Delikte, wegen denen sich Menschen meldeten, wurden außerhalb der Kirche begangen. Diese Menschen riefen an, weil sie von ihrer Kirche endlich eine Hilfe angeboten sahen“, sagt der Berater und fügt hinzu: „Nicht nur Täter waren vielfach Mitglieder der Kirche, sondern auch gerade die Opfer waren und sind es.“

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