Sexuelle Übergriffe : Missbrauch im Indianerlager
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In diesem Sommerlager kam es Anfang der Achtziger offenbar zu sexuellen Übergriffen. Bild: privat
Bei den evangelischen Pfadfindern vergeht sich ein Leiter immer wieder an einem Jungen. Jahrzehnte später spricht der Mann über seine Taten. Sein Kommentar: „Ja und?“
Am Sonntag hat in Dresden die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland begonnen. Auch Harald Wiester wollte hinfahren. Unter normalen Umständen würde der 52 Jahre alte Mann wahrscheinlich nicht einmal Notiz von der Veranstaltung nehmen.
Doch er möchte, dass sich die Kirche einem unangenehmen Teil ihrer Vergangenheit stellt, die auch Wiesters eigene Vergangenheit ist.
Südhessen, zu Beginn der achtziger Jahre. Harald Wiester steht auf der Schwelle von der Kindheit zur Jugend. Er wächst in geordneten Verhältnissen auf, wird in der örtlichen Kirchengemeinde konfirmiert. Eng verwoben mit der Gemeinde ist die Pfadfindergruppe. Die Söhne des Pfarrers gehen hin, Wiester auch. Zeltlager, Gitarre zupfen, den Wald vom Müll befreien.
Bald darauf nimmt Wiester auch an einem überregionalen Lager des „Verbands Christlicher Pfadfinder“ teil. Beim VCP geht es abenteuerlicher zu als in der Kirchengemeinde. Das liegt nicht zuletzt an einem Mann mit Namen M., damals rund vierzig Jahre alt und im hessischen VCP-Landesverband für die jugendlichen „Ranger“ und „Rover“ zuständig. M. trägt einen wilden Bart, raucht und wird den Jugendlichen später sogar einen richtigen Revolver zeigen.
Für den Herbst 1981 hat M. folgende Idee: ein Mah-Jongg-Seminar, bei dem nicht nur das traditionelle Klötzchen-Spiel gespielt wird, sondern die Gruppe tagelang ganz in die Kultur des alten China eintaucht. Chinesische Kleidung, chinesisches Essen, chinesische Lampions. Das Seminar findet in einem Landeszentrum des VCP statt.
Am letzten Abend trinken die Jugendlichen zusammen mit M. Tschai, den traditionellen Pfadfindertrunk. Beim damals 14 Jahre alten Harald Wiester schlägt das alkoholhaltige Heißgetränk so ein, dass er sich übergeben muss. Der ganze Schlafsack ist verdreckt. Zum Glück ist M. zur Stelle und hilft.
Alkohol, Erbrechen und ein Helfer in der Not
Er bringt den Jungen in den Waschraum, hilft beim Umziehen und legt ihn auf ein Sofa. Sein eigenes. Am nächsten Morgen sei er das erste Mal von M. sexuell missbraucht worden, erinnert sich Harald Wiester.
Der Alkohol, das Erbrechen, der sexuelle Kontakt. Harald Wiester ist benommen, orientierungslos. Ihm fehlt die Sprache. „Ich war in einer peinlichen Lage“, sagt er. „Es war schrecklich für mich. Aber es war auch so, dass ich wieder hinwollte.“
Denn M. plant schon das nächste Abenteuer: Im Sommer will er mit Jugendlichen in einem eigenen Planwagen über das Land ziehen, nach dem Vorbild der Sioux-Indianer, mit Lendenschurz und einer Schwitzhütte mit heißen Steinen.
Die Idee mit dem Planwagen muss die kleine Schar zwar fallenlassen, weil man auf selbstgezimmerten Holzrädern gar nicht fahren kann. Das wochenlange Indianerlager kommt dennoch zustande. Harald Wiester erzählt auch von Nachtwanderungen „zum Sonnenaufgang“, die „Häuptling“ M. angekündigt hat. Die Wanderungen dauern aber gar nicht bis zum Sonnenaufgang, denn nach vollzogenem Missbrauch werden sie abgekürzt.
Die Gruppe hat auch Hühner und Kaninchen dabei, die sie selbst schlachtet. Ein blutiger Initiationsritus. M. schafft eine Atmosphäre der Enthemmung, in der Grenzen nicht mehr viel gelten, auch zwischen den Jugendlichen nicht. Harald Wiester erzählt, dass auch er selbst „übergriffig“ geworden sei gegenüber jüngeren Teilnehmern. Es belastet ihn bis heute.