Islamistisches Attentat : Unwissende und Besserwisser
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Beten nach dem Anschlag: Mitglieder der Sikh-Gemeinde im April in Essen Bild: AP
Es gibt neue Erkenntnisse zum Anschlag auf den Sikh-Tempel. Der Innenminister gibt den Behörden die Schuld. Hätte man die Sprengstoffattacke vorhersehen können?
Der nordrhein-westfälische Innenminister präsentiert sich gerne als Mann der klaren Worte. Nach den dschihadistischen Terroranschlägen Ende März in Brüssel kritisierte Ralf Jäger die belgischen Sicherheitsbehörden scharf. Der Salafismus im Brüsseler Stadtteil Molenbeek sei seit vielen Jahren gewachsen „und man hätte möglicherweise eher eingreifen müssen“. Zudem zeigte sich der Sozialdemokrat damals erschrocken über den Umstand, dass die mutmaßliche Terrorzelle in Belgien über Jahre unentdeckt bleiben konnte. „Es ist leichter, solche Zellen zu entdecken, als radikalisierte Einzeltäter“, urteilte der nordrhein-westfälische Innenminister.
Oppositionsführer Armin Laschet (CDU) warf Jäger seinerzeit „unpassende und stillose Besserwisserei“ vor. Nun hält Laschet dem Innenminister seine Worte noch einmal vor. Anlass sind die zwischenzeitlich bekannt gewordenen Ermittlungserkenntnisse zu dem Anschlag, den zwei 16 Jahre alte Sympathisanten der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) Mitte April auf den Sikh-Tempel in Essen verübten. Sowohl die beiden Bombenleger als auch ihr mutmaßlicher Anführer, der 17 Jahre alte Tolga I, waren entweder der Polizei, dem Verfassungsschutz oder dem von Jägers Innenministerium initiierten Präventionsprogramm „Wegweiser“ bekannt. Zudem hatten sich die Mütter von Yusuf T. und Tolga I. vor den Anschlägen an die Behörden gewandt und von der Radikalisierung ihrer Söhne gewarnt. „Innenminister Jäger hat recht mit der Einschätzung, dass es leichter ist, eine Terrorzelle zu entdecken als radikalisierte Einzeltäter“, sagt Laschet. „Beim Essener Fall haben wir aber genau so eine Zelle.“ Beunruhigend sei, dass die nordrhein-westfälischen Behörden offenbar keinen ausreichenden Informationsaustausch pflegten. Noch deutlicher wird die FDP. Die unzulänglichen Ermittlungen vor dem Anschlag reihten sich „in eine beachtliche Pannenserie, die die Amtszeit von Innenminister Jäger von Anfang an in fast allen Aufgabengebieten geprägt hat“, sagt der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Joachim Stamp. Und der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Theo Kruse, glaubt, dass der Terroranschlag „mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte vermieden werden können, wenn die Behörden den zahlreichen Hinweisen konsequent nachgegangen wären“ und Informationen zusammengeführt hätten.
Mit Explosionsvideo auf dem Schulhof geprahlt
In einem Bericht für die Sitzung des Innenausschusses an diesem Donnerstag weist Jäger das zurück. Yusuf T. und Tolga I. seien den Behörden zwar vor der Tat bekannt gewesen, doch „war die Anschlagsplanung dabei nicht erkennbar und damit die Tat für die Behörden auch nicht abwendbar“. Doch wird aus dem Papier auch deutlich, über welche Fülle an Informationen die Behörden verfügten. Schon 2014 wandte sich die Gelsenkirchener Schule von Yusuf T. an die Bochumer „Wegweiser“-Beratungsstelle, seit November 2014 wurde der Junge dort betreut. Als der zunehmend aggressive Yusuf in der Schule seine Bewunderung für den IS kundtat, erwirkte der Gelsenkirchener Staatsschutz einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung seiner Familie. Im Kinderzimmer des Jugendlichen stellten die Ermittler drei Mobiltelefone, einen Computer und zwei Spielkonsolen sicher. Auf Sprengstoff oder dschihadistisches Propagandamaterial, Hinweise auf ein gewaltbereites salafististisches Netz oder Anschlagspläne stießen sie nicht.
Wenig später stellte sich aber heraus, dass die Beamten bei der Durchsuchung ein Handy übersehen hatten. Mitte Januar prahlte Yusuf auf seinem Schulhof mit einer darauf gespeicherten Video-Aufnahme einer Explosion. Heute bewerten Ermittler die Sache als Probelauf für den Anschlag. Und dieser Probelauf führte sie – wie erst am Montag bekannt wurde – mittlerweile zu einem vierten Verdächtigen.
Anfang des Jahres informierte Yusufs damaliger Schulleiter die Polizei über das Video. Doch die fertigte nur einen Bearbeitungsvermerk an. Auch dem einschlägigen kriminalpolizeilichen Meldedienst wurde die Information nicht zugeführt, so dass sie nach Jägers Angaben „weder dem Landeskriminalamt noch dem Innenministerium zur Kenntnis gelangte“.
Versäumnisse und Fehler untergeordneter Behörden
Tolga I. wiederum war dem Polizeipräsidium Duisburg seit Anfang Januar zunächst als „Prüffall Islamismus“ bekannt. Seine Mutter hatte sich an die Behörde gewandt. Weil die Ermittler bald Anhaltspunkte dafür hatten, dass der Jugendliche nach Syrien ausreisen wollte, um dort am Dschihad teilzunehmen, wurden ihm von seiner Heimatgemeinde Schermbeck Ende Januar die Ausweispapiere entzogen. Ende März, also rund zwei Wochen vor dem Anschlag, wandte sich Tolgas Mutter abermals an das Polizeipräsidium. Sie teilte mit, dass sie in einer Tasche ihres Sohnes einen „Elektro-Schocker“ und eine „kleine Kladde mit Aufzeichnungen“ gefunden hatte. Die Frau machte heimlich Fotos von der Kladde. Doch aus „den Aufzeichnungen ergaben sich für das Polizeipräsidium Duisburg zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Hinweise auf eine Anschlagsplanung“, heißt es nun in Jägers Bericht. Nach dem Anschlag bewerten die Ermittler die Unterlagen aber allem Anschein nach neu – und nahmen auch Tolga I. fest. Hinweise darauf, wie es zu dieser Neuwertung kam, finden sich in Jägers Bericht nicht.
Wie nach den Silvesterereignissen in Köln hat der Minister im Fall des Essener Anschlags nur die Versäumnisse und Fehler untergeordneter Behörden dargestellt. Abermals vermeidet es Jäger, zu seiner eigenen Rolle als oberstem Verantwortlichen der nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden Stellung zu nehmen.