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Laienrichter : Ganz normale Leute

Richter und Schöffen (ganz links und ganz rechts) im Oktober beim Prozessauftakt zum Polizeieinsatz bei Stuttgart 21 Bild: dpa

Schöffen an Gerichten haben viel Macht. Und meist keine Ahnung von Recht. Dadurch sind schon Prozesse gescheitert und Angeklagte frei gekommen. Sollte man die Laienrichter nicht einfach abschaffen?

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          Schöffen können Prozesse kaputtmachen. Wie im Fall der sechs Angeklagten, die am Berliner Alexanderplatz einen jungen Mann geschlagen und getreten hatten, der danach im Krankenhaus an Hirnblutungen starb. Ein Zeuge, Ali Y., hatte die Männer beobachtet. Hatte gesehen, wie sie dem Zwanzigjährigen noch gegen den Kopf traten, als er schon am Boden lag. Er schilderte nach der Tat der Polizei, wer wen wann angegriffen hatte. Vor Gericht sollte er einige Monate später seine Aussage wiederholen. Aber der Zeuge sagte nur: „weiß ich nicht mehr“ und „habe ich vergessen“.

          Mona Jaeger
          Stellvertretende verantwortliche Redakteurin für Nachrichten und Politik Online.

          Da meldete sich ein Schöffe zu Wort. Er habe nur eine einzige Frage an den Zeugen: „Sind Sie zu feige, eine Aussage zu machen, oder wollen Sie das Gericht verarschen?“ Vier Tage später erschien in der „B.Z.“ ein Artikel mit noch mehr Zitaten des Schöffen. „Ich habe doch nur gesagt, was ich denke.“ Die Verteidiger würden „noch ein bisschen motzen“, die wollten „halt den Prozess kaputtmachen“. Der Prozess ging tatsächlich kaputt – wegen des Schöffen. Er wurde für befangen erklärt und vom Verfahren ausgeschlossen. Nach fünf Verhandlungstagen musste der Prozess von vorne beginnen, mit einem neuen Schöffen. Inzwischen waren drei der Angeklagten freigekommen.

          An den Schöffen gescheitert

          Immer wieder scheitern Prozesse wegen Schöffen. Am Landgericht Darmstadt musste ein Verfahren zu Kinderpornographie neu aufgerollt werden, weil ein Schöffe sich unvorsichtig geäußert hatte. Während des Verfahrens gegen den Vater des Winnenden-Attentäters griff die Polizei einen Schöffen betrunken in der Innenstadt auf; der Mann beschimpfte die Polizisten als „Idioten“ und „Scheißkerle“, außerdem hatte er Prozessdokumente bei sich. Der Prozess konnte nur fortgesetzt werden, weil es einen Ersatz-Schöffen gab, der seit Anfang des Prozesses dabei war.

          Ähnlich war es bei dem Verfahren gegen einen Transplantationschirurgen, der wegen Totschlags vor Gericht stand, in einer Verhandlungspause vom Schöffen aber um die Adresse eines guten Handchirurgen gebeten wurde. Privater Austausch zwischen Angeklagtem und Laienrichter ist nicht erlaubt. Der Schöffe flog raus.

          Schöffen: Macht und Risiko

          Schöffen sind ein Risiko. Aber sie haben viel Macht. Ihre Stimme zählt genauso viel wie die des Berufsrichters, wenn abgestimmt wird über Schuld und Unschuld. An Amtsgerichten urteilen ein Berufsrichter und zwei Schöffen, dort können die Laien den Profi also überstimmen. An Landgerichten gibt es drei Berufsrichter und zwei Schöffen, dort können die Schöffen zumindest einen Urteilsspruch verhindern, für den es eine Zwei-drittelmehrheit braucht.

          Berufsrichter haben in der Regel vier Jahre studiert, Paragraphen gebüffelt, zwei Jahre Referendariat hinter sich. Nur die besten Jurastudenten werden Richter. Schöffe aber kann fast jeder werden, einzige Voraussetzung: Er oder sie muss zwischen 25 und 70 Jahre alt sein. Von Paragraphen, Plädoyers und dem ganzen juristischen Rest brauchen, ja sollen sie gar keine Ahnung haben. Denn Schöffen sollen nach Bauchgefühl und mit Menschenverstand urteilen. Stefan Finkel, Vorsitzender des Berliner Richterbundes, fasst es so zusammen: „Die erste Aufgabe eines Schöffen ist, natürliches Empfinden in einen Prozess hineinzutragen.“ Das klingt ein wenig, als wären Berufsrichter keine Menschen, sondern Automaten. Dabei sind sie natürlich auch ganz normale Menschen, nur solche, die möglichst einen kühlen Kopf bewahren und ihre Affekte im Griff haben.

          Auch im Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder des Berliners Jonny K. mussten Schöffen ausgetauscht werden. Er wurde im Juni 2013 fortgesetzt.
          Auch im Prozess gegen die mutmaßlichen Mörder des Berliners Jonny K. mussten Schöffen ausgetauscht werden. Er wurde im Juni 2013 fortgesetzt. : Bild: dpa

          Es gibt Richter, die gegen Laienrichter sind. Sie finden es zu aufwendig, zu teuer, zu gefährlich, Schöffen einzuspannen. Bei einer Umfrage unter bayerischen Richtern hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen, die Schöffen weitgehend abzuschaffen. Aber keiner der Richter will das öffentlich sagen. Denn ihre Widersacher, die Befürworter der Schöffen, haben ein starkes Argument: Schöffen sind Ausdruck unserer Demokratie.

          Bis ins 19. Jahrhundert sprachen Juristen Recht, die alle aus der Oberschicht kamen und von Fürsten und Königen eingesetzt wurden. Diese Richter urteilten oft nach ihrem ganz persönlichen Recht, also nach Gutdünken. Um das zu verhindern, wurden ihnen seit 1848 Laien zur Seite gestellt. Ein emanzipatorischer Akt des Bürgertums. Von nun an wurde „im Namen des Volkes“ geurteilt. Von 1878 an gab es in Deutschland Schwurgerichte, aber die wurden schon 1924 wieder abgeschafft, weil es zu viele Fehlurteile gab. Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es das Schöffenamt, wie wir es heute kennen. Mit einem bedeutenden Unterschied zu früher: Richter kommen heute aus allen Bevölkerungsschichten. Sie gehen wie jeder andere einkaufen, fahren Fahrrad und streiten sich mit dem Nachbarn. Trotzdem haben sie an ihrer Seite noch immer Männer und Frauen sitzen, die ihnen das wirkliche Leben erklären sollen.

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