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Über die Äußerung von Unmut : Der deutsche Schmollwinkel

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Beherrscht neben Wutreden offenbar auch den typischen deutschen Schmollmund: AfD-Politiker Björn Höcke Bild: dpa

Das Schmollen hat in der deutschen Gesellschaft eine lange Tradition. Über eine Neigung, die zum Merkmal eines Nationalcharakters taugt.

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          Ebenso bemerkenswert wie die Skandalreden des Pegida-Sympathisanten Akif Pirinçci und des AfD-Politikers Björn Höcke sind die stürmischen Publikumsreaktionen: Gut hörbar macht sich da ein Unmut Luft, dem eine lange Zeit des Schmollens vorausgegangen ist. In den entsprechenden Internetforen drückt sich dieser Unmut in einer Vielzahl von Ausrufezeichen aus. Sie bilden den natürlichen Abschluss von Meinungsäußerungen, die unter hohem Druck entstanden sind („Darunter krankt unsere Gesellschaft: dreckige 68er Anwälte!!!“).

          Es ist der Stil, in dem seit jeher der klassische Kleinbürger schimpft, wenn er sich verschaukelt, übervorteilt, ausgenutzt und unterdrückt, kurzum: belogen und betrogen fühlt. In unseren Tagen zürnt er den zynisch so genannten „Flüchtilanten“ mit der gleichen Inbrunst, die in den späten sechziger Jahren den „Gammlern“ galt.

          Endzeitpropheten am Ende des politischen Spektrums

          Den Endzeitpropheten am anderen Ende des politischen Spektrums eröffnet der Aufstieg der Rechtspopulisten die Möglichkeit, ihrerseits mit Ausrufezeichen um sich zu werfen und sich als letzte Bastion des Widerstands auszugeben. Die Tonlage ist mitunter so schrill wie in den Zirkularen der K-Gruppen, die in den siebziger Jahren sowohl gegen den Kapitalismus als auch gegeneinander antraten. In dem Bewusstsein, einer revolutionären Elite anzugehören, gegen eine Übermacht von Feinden zu streiten und das historische Recht auf der eigenen Seite zu haben, zogen damals zahllose Sektierer ins Gefecht und sahen sich überall von Verrätern umgeben.

          In seiner reinsten Form spricht dieser Starrsinn aus den Klassikern der RAF. Mit dem Hass auf die „Schweine“, die sich dem bewaffneten Kampf entgegenstellten, ging eine groteske Selbstvergötzung einher. „Der Rivale, der absolute Feind, Staatsfeind: das kollektive Bewußtsein, die Moral der Erniedrigten und Beleidigten, des Metropolenproletariats, das ist Andreas“, schrieb Gudrun Ensslin über den gemeingefährlichen Revolverhelden Andreas Baader.

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          Aber auch in der Mitte der deutschen Gesellschaft hat das Schmollen eine lange Tradition. Man denke nur an Günter Grass und Helmut Kohl. Der Missmut des Literaturnobelpreisträgers Grass war weder durch die hohen Auflagen seiner Bücher noch durch die breite mediale Aufmerksamkeit für seine zahlreichen politischen Stellungnahmen gemildert worden. Stets fühlte er sich verkannt und ungerecht behandelt, und er klagte über die „Kleinmeister billiger Häme“, die ihn zu kritisieren wagten.

          Als Greser & Lenz ihn 2006 als niedliches Hänschen-Klein in Waffen-SS-Uniform karikierten, erkannte er darin Ungeheuerliches: „In der FAZ ist eine Karikatur über mich veröffentlicht worden, die hatte Stürmer-Qualität.“ Während er selbst kräftig austeilte, wies er jedes Widerwort, das er zu hören bekam, als ungebührlichen Zensurversuch zurück. „Ich spüre einen regelrechten Vernichtungseifer“, stellte er noch im Alter von 87 Jahren in einem Interview fest. „Aber ich lasse mich nicht mundtot machen.“ Das wäre freilich auch gar nicht möglich gewesen, denn er brauchte ja nur zum Telefonhörer zu greifen, um sich auf allen fünf Kontinenten Gehör zu verschaffen. Und dennoch gebärdete er sich als Opfer einer niederträchtigen Totschweigetaktik.

          Helmut Kohl, in vielerlei Hinsicht sein Antipode, zog es vor, stumm zu schmollen. Nur selten ließ er durchblicken, was er von den Journalisten hielt, die ihn zu Fall bringen wollten („Der Spiegel ist ein Schweineblatt, und der Stern ist ein Verbrecherblatt“). Wenn er auf jede Karikatur oder Parodie entrüstet reagiert hätte – so wie es in unseren Tagen allen Ernstes Donald Trump unternimmt –, wäre er als Kanzler überhaupt nicht mehr zum Regieren gekommen, und wenn er Parteifreunden grollte, nahm man das als Zeitungsleser und Fernsehzuschauer normalerweise nicht durch Kohls öffentlichen Äußerungen wahr.

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