Ritalin gegen ADHS : Wo die wilden Kerle wohnten
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Eine fabrizierte Erkrankung
Noch radikaler sah es der Erfinder von ADHS: der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg. In den späten sechziger Jahren hatte er dafür gesorgt, dass die Hippeligkeit und Konzentrationsschwäche, die er bei einigen Kindern feststellte, unter dem Namen ADHS als psychische Erkrankung klassifiziert wurde. Doch als die ADHS-Diagnosen wucherten und die Ritalin-Verschreibungen explodierten, kamen ihm Zweifel. Vierzig Jahre später, kurz vor seinem Tod, gestand Eisenberg dem Wissenschaftsjournalisten Jörg Blech, dass er nicht mehr an ADHS glaubt. ADHS, sagte er, sei „ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“.
Keine Krankheit, ein Deutungsmuster: als psychisch krank wird definiert, was gegen bestimmte Regeln verstößt und von Normen abweicht. Diese Normen sind nicht ein für alle Mal festgelegt, sie können sich verändern. ADHS ist ein Jungen-Syndrom. Jungen bekommen die Diagnose viermal so oft wie Mädchen. Sie sind es, die über die Stränge schlagen und gegen Regeln verstoßen. Wer hat sich verändert? Die Jungen? Die Regeln?
„Unsere Systeme sind für Jungen unfreundlich geworden“, sagt Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen und ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats für Gesundheit. Jungen, so meint er, wollten risikoreicher leben und sich erproben. Dafür fehlten ihnen aber heute die Freiräume. „Jungen versuchen, Grenzen zu überschreiten“, so Glaeske, „das gilt in unserem System als auffällig.“ Die Toleranz für ein Verhalten, das früher selbstverständlich als jungenhaft akzeptiert wurde, hat rasant abgenommen. „Wenn man sagt, dass Jungen stören, muss man auch über die reden, die sich davon gestört fühlen“, fordert Professor Glaeske.
Meistens sind es Jungs
„Die ADHS-Patienten in meiner Praxis sind ausschließlich Jungen“, sagt der Arzt Ulrich Fegeler, der zugleich Sprecher des Berufsverbandes für Kinder und Jugendmedizin ist. „Aufmerksamkeitsdefizit“ hält er eigentlich für einen irreführenden Begriff. Im Gegenteil seien diese Jungen eher zu aufmerksam. „Jeder Reiz wird wichtig genommen.“ Früher habe es einen großen Bedarf an solchen Menschen gegeben, die in kürzerer Zeit mehr mitbekommen als andere. „Das waren ideale Kämpfer, Jäger und Wächter mit einem besonderen Gespür für ihre Umwelt“, sagt Fegeler, „aber in unserer Gesellschaft braucht man sie nicht mehr.“ Oder glaubt, sie nicht mehr zu brauchen.
Fegeler hält die Begleiterscheinungen von ADHS wie Lese- und Rechtschreibschwächen, Tics und Auffälligkeiten im Sozialverhalten in Wirklichkeit für psychische Reaktionen darauf, wie die Gesellschaft mit diesen Jungen umgeht. „Sie kriegen ständig eins drauf, das macht sie psychisch krank“, sagt er.
Paul nahm zum ersten Mal Ritalin für den Schultest zum Gymnasium. Nun gibt es in Pauls Leben ein Davor und ein Danach. Vor Ritalin habe sie mit Paul kein vernünftiges Gespräch führen und schon gar nicht lernen können, sagt Pauls Mutter. Danach ging alles wie von selbst: „Ich hatte ein neues Kind.“ Jetzt ist Paul kein anstrengendes Kind mehr, nicht für die Mutter, nicht für die Lehrer.
Kinder sollen vorne mitschwimmen
Der Verhaltenstherapeut hatte vorausgesagt, dass Paul mit Ritalin in der Schule eine Note besser würde. Und tatsächlich: Seit Paul die Pille nimmt, kommt er ohne Probleme mit, Vokabellernen und Rechtschreibung haben sich verbessert, die Leseschwäche ist verschwunden. Paul besucht ein privates Gymnasium, das auch ADHS-Kinder nimmt und Rechtschreibung bis zur zehnten Klasse nicht bewertet. Später möchte er Ingenieur werden. Ganz besonders interessieren ihn Bohrtürme auf schwankendem Untergrund. Im vergangenen Jahr wollte Paul das Ritalin absetzen, doch seine Lehrerin fand, so kurz vor dem Abitur sei das nicht der richtige Zeitpunkt. Pauls Mutter glaubt, dass er auch für das Studium Ritalin brauchen wird. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft“, sagt sie „und ich möchte, dass meine Kinder ganz vorne mitschwimmen.“