Jahrestag des Solinger Brandanschlags : Noch immer klafft die Lücke
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Am Tag nach dem Brandanschlag: Türkische und deutsche Solinger versammeln sich vor dem zerstörten Haus der Familie Genç Bild: Edgar Schoepal
Wo vor zwanzig Jahren in Solingen Menschen starben, weil Ausländerhasser ihr Haus in Brand steckten, klafft eine Lücke. Noch immer spürt Mevlüde Genç den Schmerz.
Die Untere Wernerstraße in Solingen ist eine ruhige Sackgasse. Juchzend sausen die zwei Kinder auf ihren Bobby-Cars den Berg hinab, vorbei an den gepflegten Gärten der Ein- und Mehrfamilienhäuser, vorbei an Sylvia Löhrmann. Die Welt in der Unteren Wernerstraße scheint in bester Ordnung. Bis Hausnummer 79. Direkt neben der Garage klafft, wie von einer großen Baggerschaufel aus dem Hang gegriffen, eine tiefe Lücke. Dort unten, dort wo die Kellerfundamente sein müssten, erinnern stattliche Kastanienbäume an die Toten. In der Nacht zum 29. Mai 1993 starben Hatice, Saime, Hülya Genç, Gülüstan Ötztürk und Gürsün Ince, weil vier junge Ausländerhasser Haus Nummer 81 in Brand gesteckt hatten. Acht weitere Menschen erlitten teilweise lebensgefährliche Verbrennungen.
Vor zwanzig Jahren gab es Brandanschläge in Rostock, Hoyerswerda, Mölln und Hünxe. Doch die Solinger Tat erschütterte Deutschland besonders. Ausgerechnet Solingen. „Made in Solingen“ war der Werbespruch für die Messer und Klingen mit Weltruf aus dem Bergischen Land. Nun aber ging das Bild des verkohlten Hauses der Familie Genç um die Welt. Sylvia Löhrmann steht vor dem Gedenkstein mit den Namen der Opfer. Nach einer kleinen Weile sagt sie: „Wenn es in Solingen passieren kann, kann es in jeder Stadt passieren, das war das, was alle so besonders schockierte.“
Die nordrhein-westfälische Schulministerin hat es nicht weit bis zur Unteren Wernerstraße. Gegenüber von dem Haus, in dem sie bis heute wohnt, liegt an der Schlagbaumer Straße jene Tankstelle, an der die zwischen 16 und 23 Jahre alten Täter Benzin kauften und sich dann die vielleicht 900 Meter auf den Weg machten zum „Türkenhaus“, das einer von ihnen als Anschlagsziel vorgeschlagen hatte. Im Windfang schütteten zwei der Männer „das Benzin großflächig gegen die Hauseingangstür, gegen die links und rechts an der Hauswand angebrachte Holzverschalung“ und zündeten es möglicherweise mit Hilfe von gefaltetem Zeitungspapier aus sicherem Abstand an, heißt es im Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 13. Oktober 1995. Drei der Täter erhielten die Jugend-Höchststrafe von zehn Jahren, einer wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt.
Ein anrührender Aufruf
Mevlüde Genç trägt einen braunen Mantel und ein enggebundenes Kopftuch. Ihre Hände hat sie auf einen schwarzen Gehstock gestützt. Vor zwanzig Jahren verlor Frau Genç zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Es mache für sie keinen Unterschied, ob fünf, zehn oder zwanzig Jahre vergangen seien, sagt Frau Genç. „Für mich ist der Schmerz jeden Tag der gleiche.“ Mevlüde Genç ist 70 Jahre alt. Weil ihre Gesundheit angegriffen ist, hat Frau Genç gemeinsam mit ihrem Mann Durmus und ihrem Sohn Kamil die Medien an diesem Tag ins Solinger Theater- und Konzerthaus zu einer Pressekonferenz eingeladen, um nicht in Einzelinterviews immer und immer wieder dieselben aufwühlenden Fragen beantworten zu müssen. Zumal sie noch immer auf die Hilfe eines Dolmetschers angewiesen ist.
Am Mittag nach dem Brandanschlag vor zwanzig Jahren versammelten sich Solinger Bürger spontan, um ihrer Trauer Ausdruck zu geben. Doch am späten Abend kippte die Stimmung. Türkische Jugendliche und linksextremistische Trittbrettfahrer von nah und fern zogen durch die Stadt, verwüsteten Läden. Aus einem Geschäft zerrten Randalierer Matratzen auf eine Kreuzung in der Nähe des Anschlagsorts und zündeten sie an. Tagelang ging das so. „Am Tag der großen Demonstration stand an der Schlagbaumer Straße alle fünf Meter ein Polizist. Nun war ich damals noch etwas kritischer gegenüber der Polizei, aber ich fand das damals sehr beruhigend“, erinnert sich die Grünen-Politikerin Löhrmann. „Auf einmal Demonstrationen, auf einmal Medien.“ Die Ministerin erinnert sich an Fernsehteams, die Jugendlichen Zehn-Mark-Scheine gaben. „Damit sie noch einmal Scheiben einschlagen, manche Medien hatten noch keine Bilder. Das war damals die ganze Bandbreite.“