
Die Wahl von Nahles : Die SPD in der Sackgasse
- -Aktualisiert am
Soll Erneuern: Die neue SPD-Vorsitzende Andrea Nahles mit ihrem Amtsvorgänger Olaf Scholz Bild: dpa
Andrea Nahles führt eine unversöhnte Partei mit ersten Anzeichen akuter Selbstzerstörung. Der SPD droht ähnlich wie der Linkspartei eine Zukunft als politische Sekte.
An die vielen Vorsitzenden, die sich die SPD im vergangenen Jahrzehnt gegeben hat, ist immer wieder dieselbe Frage gerichtet worden: Gelingt ihnen die Erneuerung der Partei? Anlass dafür war die Ära Schröder, die eine gespaltene und verunsicherte Partei zurückließ. Der Grund für das Bedürfnis nach Neuerfindung lag aber auch darin, dass sich die SPD nicht mehr sicher war, ob all das, was sie in der Ära Brandt und danach an Höhenflügen erlebt hatte, nicht nur Strohfeuer waren, die sich allein an Personen, nicht an ihrem Programm festmachten – das letzte und kürzeste dieser Strohfeuer könnte der „Schulz-Zug“ vor einem Jahr gewesen sein.
Wie zerrissen die Partei ist, zeigte auch der Parteitag in Wiesbaden. Kein Zeichen einer Versöhnung zwischen Pragmatikern und Moralisten, zwischen Realisten und Idealisten, zwischen Befürwortern und Gegnern der Koalition. Vielmehr erste Zeichen von Selbstzerstörung. Andrea Nahles, die neue Parteivorsitzende, erhielt ein Ergebnis weit unterhalb der Erwartungen, nachdem Kevin Kühnert, ihr Gegenspieler in Sachen Koalition, doch extra noch zu ihrer Wahl aufgefordert hatte. Nahles erhielt noch weniger Stimmen als Sigmar Gabriel am Tiefpunkt seiner Zeit als Vorsitzender. Die 66,4 Prozent für die neue Vorsitzende ähnelten vielmehr den Ergebnissen, die Olaf Scholz bei Vorstandswahlen auf SPD-Parteitagen zu ertragen pflegt. Man weiß dann nicht: Weil oder obwohl er einer der erfolgreichsten und fähigsten SPD-Politiker ist.
Statt Nahles zu stärken, war diese Wahl eine kindische Ohrfeige, ein Achtungserfolg für die Gegenkandidatin der Fraktionsvorsitzenden, der so unerwartet vielleicht gar nicht kam. Sonst hätte sich Kühnert wohl nicht zum Nahles-Fan machen lassen. Viele SPD-Delegierte gaben einer Politikerin ihre Stimme, die ohne Erfahrung ist, deren Vorteil die kommunalpolitische Verankerung (also Sachverstand) hätte sein können, die aber gar nicht damit, sondern mit stramm linker Anti-Agenda-Agitation für sich warb. Simone Lange ist nach Kevin Kühnert damit die zweite frischgebackene Identifikationsgestalt, die eine nach Orientierung suchende Parteiführung dazu zwingen könnte, die SPD nach links, also in Richtung sozialpolitischer und planwirtschaftlicher Glaubenssätze zu rücken. Olaf Scholz scheint der Letzte zu sein, der dagegen hält.
Es ist eine seltsame Mischung, die der SPD diesen Weg vorzeichnet, und man kann schon heute sagen: Es ist eine Sackgasse. Aber wer sollte es auch sein, der zur Umkehr mahnt? Weder an der Spitze, noch unter den Delegierten und Funktionären können in der SPD über Nacht die neuen Gesichter, die neuen Typen, die neuen Politiker auftauchen, die einen alten Missstand beheben könnten: dass eine von Versorgung und Theorie geprägte akademische Partei-Elite meint, der Wirklichkeit weit vorauszueilen, ihr aber in Wahrheit immer wieder um Jahre hinterherhinkt. Die Neumitglieder, die jetzt gefeiert werden, liegen da völlig im Trend. Nicht umsonst wird von ihnen ein seltener Augenblick, in dem die SPD tatsächlich ihrer Zeit einmal voraus war, die Sozialreformen unter Schröder, Steinmeier und Scholz vor nunmehr fünfzehn Jahren, als reaktionärer Neoliberalismus gebrandmarkt. Auch so entsteht der programmatische Linksdrall, der damit begründet wird, dass nichts die Geschlossenheit der Partei so sehr bedrohe wie das angebliche Teufelswerk des Wirtschaftsliberalismus. Die SPD wirft damit genau den falschen Ballast ab.
Um weder diese Debatte führen zu müssen, noch eine andere, nämlich die über „Identitäten“ und Wohlfahrtsstaat im Zeitalter der Einwanderungsgesellschaft, flüchtet sich die SPD mit Nahles in die Zukunft der Digitalgesellschaft und den Kampf gegen den „digitalen Kapitalismus“. Das ist insofern berechtigt, weil die Domäne der SPD, die Arbeitswelt, davon am meisten betroffen sein wird. Gleichzeitig ist es aber beunruhigend, weil die SPD im Geiste der Anti-Agenda-Politik nichts unversucht lässt, den Arbeitsmarkt möglichst nachhaltig zu belasten, so lange die Konjunktur noch verdeckt, was damit angerichtet wird. Rente? Mindestlohn? Teilzeit? Steuern? Grundeinkommen? Die SPD ist auf all diesen Gebieten schon sehr weit vom Liberalismus entfernt, und damit sehr weit von einer Strömung abgekommen, die ihr in der Nachkriegszeit mehrmals den Weg in die Mitte der Gesellschaft geebnet hat. Geblieben sind ihr davon offenbar nur die zur Ideologie erstarrten Ausläufer gesellschaftspolitischer Liberalmoral.
So sehr die SPD mit Andrea Nahles an ihrer Spitze in den nächsten Monaten an ihrer Erneuerung arbeiten wird, so sicher ist doch: Eine neue SPD wird dabei nicht herauskommen, sofern man eine SPD, die sich unter dem Schlachtruf „back to the roots“ als eine pragmatische Linkspartei aufstellt, nicht doch als neu bezeichnen will. Das aber wäre die „bayerische“ Lösung für die SPD, die mittlerweile schon bis nach Nordrhein-Westfalen ausstrahlt: Ein kleiner, exklusiver Restplanet kreist dann um die eine Sonne, die dem deutschen Parteiensystem noch geblieben ist, und muss fürchten, demnächst einmal ganz zu verschwinden. Denn nach Nahles kann und wird so schnell niemand mehr kommen können, der, ohne dass es vollends sektiererisch wirken würde, das erneut Erneuerte erneut erneuern will.