Mitgliederschwund der Kirchen : Das Hamburger Wunder
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Hamburgs neuer Erzbischof Stefan Heße begrüßt am Samstag vor dem Marien-Dom in Hamburg Bürger und Gläubige Bild: dpa
Überall in Deutschland schrumpft die katholische Kirche. Nur nicht in Hamburg, wo Einwanderer aus katholischen Ländern für Wachstum sorgen. Seit diesem Samstag wird die Diözese vom jüngsten Bischof der Republik geleitet.
Die katholische Kirche in Deutschland schrumpft – und wie. Seit Jahrzehnten werden mehr Katholiken beerdigt, als neue durch Taufe oder Konversion hinzukommen. Auch die Austrittszahlen bewirken bei vielen nur noch ein resigniertes Achselzucken. Weit mehr als 200.000 Mitglieder haben die katholische Kirche alleine im vergangenen Jahr verlassen, seit der Wiedervereinigung insgesamt mehr als drei Millionen. Dass es den Protestanten noch schlechter geht, ist kein Trost für die Katholiken. Auch nicht in Hamburg.
Dabei nimmt sich die kirchliche Welt im Norden auf den ersten Blick fast paradox aus. Die evangelische Kirche schrumpft nicht, sie implodiert. Annähernd 80 Prozent evangelische Christen zählte man im Hamburg des Jahres 1970, in Schleswig-Holstein waren es fast 87 Prozent. Heute sind zwischen den Meeren noch 51 Prozent der Bürger evangelisch, in Hamburg weniger als 30 Prozent, unter den Schulkindern der Hansestadt gerade noch 16 Prozent.
Einwanderer sorgen im Erzbistum Hamburg für steigende Zahlen
Das katholische Erzbistum Hamburg dagegen schrumpft nicht, es wächst, wenngleich auf niedrigem Niveau. Mehr als 410.000 Katholiken zählte man im Jahr 1995, als das Erzbistum nach der Wiedervereinigung aus der Stadt Hamburg, dem Land Schleswig-Holstein und dem Landesteil Mecklenburg zusammengebastelt worden war. Jahr um Jahr wurden es weniger. Vor vier Jahren hat sich der Trend umgekehrt, in diesem Jahr dürfte die Schwelle von 400.000 überschritten werden. Stefan Heße könnte sich freuen. Am Samstag wurde der nicht einmal fünfzig Jahre alte Geistliche zum dritten Bischof von Hamburg geweiht.
Die Freude dürfte Erzbischof Stefan bald vergehen. Denn das Geheimnis der wachsenden Hamburger Kirche ist keines, jedenfalls keines, das einem Wunder gleichkäme. Kinder? Nicht mehr und nicht weniger als woanders auch. Beerdigungen? Mehr als genug! Eintritte und Wiederaufnahmen? Statistisch kaum von Gewicht. Austritte? Eine Katastrophe. Nicht die Alten kehren der Kirche zu Tausenden den Rücken, sondern die Jüngeren, die potentiellen Eltern, die potentiellen Kirchensteuerzahler, die potentiellen Säulen des Gemeindelebens von morgen.
Die Auflösung des Hamburger Paradoxons steht nicht in Büchern. Sie liegt auf der Straße. Unter dem im Stadtteil St. Georg gelegenen Mariendom befindet sich seit kurzem die erste Urnenbegräbnisstätte an einer deutschen Kathedralkirche. Neben dem Dom steht ein bronzener Papst Johannes Paul II., zu seinen Füßen nicht die Toten, sondern ein kleines Blumenmeer. Die Deutschen werden weniger, die Polen mehr. Und mit ihnen die Portugiesen, nicht zu vergessen die Italiener, die Kroaten, die Spanier und die Ungarn. Insgesamt machen die Einwanderer aus Mittel- und Südeuropa fast ein Viertel der Katholiken im Erzbistum Hamburg aus, Tendenz steigend.
Kein Priesternachwuchs
Sie lassen die Hamburger Kirche jung erscheinen und dynamisch, wenngleich die meisten fremdsprachigen Gemeinden sorgsam unter sich bleiben und die eigene religiös-kulturelle Parallelwelt der Integration in den deutschen Katholizismus vorziehen. Warum auch nicht? Denn das Erzbistum Hamburg wird es vielleicht schon in einer, sicher aber in zwei Generationen nicht mehr geben, jedenfalls nicht das, an dem die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der ersten und zweiten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg in der norddeutschen Diaspora gebaut haben: ein Kirchturm in Sicht, ein Gottesdienst am Sonntag, ein Geistlicher in der Nähe.
Die Kennziffern sind von fast brutaler Nüchternheit. Vor fünf Jahren konnte der damalige Personalchef Ansgar Thim mit annähernd 150 Priestern planen, in fünf Jahren werden vielleicht noch hundert im Dienst sein. Priesternachwuchs? Woher? Und vor allem: warum? Selbst wer Seelsorger werden möchte, muss damit rechnen, als Manager einer Art kirchlichen Gebietskörperschaft zu enden - wenn er nicht schon vorher unter der Last der Verantwortung zusammenbricht.
Vor zehn Jahren gab es im Erzbistum noch 161 Pfarrgemeinden, heute sind es 88, im Jahr 2020 soll es annähernd 30 „Pastorale Räume“ geben, Großgemeinden, zusammengelegt aus kleinen, kaum noch funktionierenden Einheiten. Wie soll das alles gut gehen, wo es um die Anziehungskraft der katholischen Kirche, die gerade einmal sechs Prozent der Gesamtbevölkerung im Norden repräsentiert, schon jetzt nicht gut bestellt ist? 1997 zählte man noch mehr als 14 Prozent regelmäßige sonntägliche Gottesdienstbesucher. 2013 waren es noch gut neun.
Das Verständnis von Kirche wird sich verändern
Harald Strotmann hat die Ruhe weg. Denn der jüngste Umbruch soll nicht nur so gut wie möglich gestaltet werden, er wird es auch. In vielen Bistümern werden alte Strukturen von oben herab zerschlagen. Nicht selten sind es die Treuesten der Treuen, die es mit einer Mischung aus Trauer und Wut aus der Kirche treibt. Gemeinde! Was vor vierzig Jahren das Mantra war, wird heute zum Schnee von gestern erklärt. Nicht ganz so in Hamburg. Man hat aus Fehlern gelernt - sogar aus eigenen.
Vor zehn Jahren wurden schon einmal Pfarreien zusammengelegt. Fast über Nacht und per ordre de Mufti. Jetzt gehe es nicht mehr um Kennziffern und Planungsgrößen, um feste Stellenpläne und einen starren Zeitrahmen, nicht einmal mehr um vormals geheiligte kommunale Grenzziehungen, erläutert der Leiter der Stabsstelle „Pastorale Entwicklung“. Was dann? Wenn Katholiken vor Ort sich Zeit nehmen und sich Zeit lassen, um altvertraute und neue, ungewohnte Handlungsfelder zu vermessen, so glaubt man in Hamburg, dann verändert sich das Verständnis von Kirche. Wo es einst nur die eine Pfarrgemeinde als Ausgangs- und Fluchtpunkt kirchlichen Handelns gab, bildet sich ein vielschichtiges Geflecht von „Orten kirchlichen Lebens“.
„Evangelisches Kirchenbild“, so ist es den Hamburger Verantwortlichen um Domkapitular Ansgar Thim, dem letzten Generalvikar des vor einem Jahr emeritierten Erzbischofs Werner Thissen, mehr als einmal vorgehalten worden. Auf sich sitzen lassen wollen sie den Vorwurf nicht. „Wir können keinen Klerikalismus hochhalten, den es längst nicht mehr gibt“, heißt es nordisch-nüchtern. Was dann? „Wir fragen zuerst nach den Ideen der Leute vor Ort: Wo sind wir Kirche? Und: Für wen sind wir Kirche?“ Damit ist Hamburg die Ausnahme von der katholischen Regel, dass Veränderungen von oben kommen oder gar nicht. Das Ergebnis spricht für sich: „Die Zahl derer, die Veränderungen gestalten, ist größer als die Zahl derer, die sich verweigern,“ berichtet Strotmann.
Ordensleben: „Und ein wenig hip ist es auch“
Ortstermin in Kiel. Am Ersten Advent des vergangenen Jahres wurde aus sechs Gemeinden die Pfarrei „Franziskus von Assisi“. Drei Jahre hatte die Kieler Katholiken Zeit bekommen und sich Zeit gelassen, um die Kirche in der Stadt und die Stadt in der Kirche zu erforschen. „Wir werden die Personalplanung auf Inhalte aufbauen“, hatte man zu Thissens Zeiten allen Gemeinden versprochen. Und im Blick auf die typischen Diasporareflexe hinzugefügt: „Wichtig ist, dass die Seelsorge sich nach außen öffnet, dass sich nicht alles nur um die Versorgung der kleinen Kerngemeinde dreht.“
Die Kieler Katholiken haben die Botschaft verstanden. An eine Sozialraumanalyse der Stadt knüpften sie die Frage, in welchen Räumen sie sich bewegen, trotz oder auch obwohl sie kaum zehn Prozent der Bevölkerung der Landeshauptstadt stellen. Herausgekommen ist ein Mosaik aus drei Dutzend alten und neuen Orten kirchlichen Lebens, von der Schwangerenkonfliktberatung „In Via“ über den „Kirchen-Kai“ mit seinem Gesprächsangebot über Gott und die Welt, einer Gesprächsgruppe für trauernde Eltern und einer wöchentlichen ökumenischen Vesper, nicht zu vergessen der Sprachunterricht für Flüchtlinge, der mit einem Lehrer anfing und heute von mehr als zehn Freiwilligen erteilt wird, und das Haus Damiano, ein ehemaliges Männerkloster, das mittlerweile von vier Franziskanerinnen und ihren Gästen mit Leben erfüllt wird: Suchende, Zweifelnde, Erschöpfte - eine Oase der Ruhe, der Einkehr und der seelischen Stärkung.
Schwester Maria Magdalena, die Jüngste der vier, strahlt eine Zuversicht aus, als stünde die große Zeit der Bewährung des Glaubens noch bevor. Nahbarkeit, Verlässlichkeit, Diskretion, so schildert sie die Innenseite des Lebens der Ordensfrauen mit ihren Gästen. Die Außenseite: gemeinsames Gebet, Gesten, Rituale, Sichtbarkeit. „Die Menschen können die Quellen sehen, aus denen wir leben“, sagt die Ordensfrau, die sich auf „wertorientierte Begleitung“ nach Viktor Frankl spezialisiert hat und auch Seelsorgerin für das Kieler Landesparlament geworden ist. „Und ein wenig hip ist es auch.“ Schon haben zwei Frauen über Kiel den Weg in das Ordensleben gefunden.
„Das ,Wir‘ ist nicht mehr so wichtig, das ,Ich‘ zählt“
Doch auch in Kiel ist die neue Gestalt der Kirche nur ein Provisorium. Noch können die rund 24.000 Katholiken der Stadt auf sechs Priester zählen. In zwei Jahren werden es noch vier sein, weiß Propst Leo Sunderdiek. Und von den zehn Kirchen werden mehr als die Hälfte in nicht allzu ferner Zukunft anderen Zwecken dienen müssen als dem Gottesdienst. Welchen? Das wird sich erweisen müssen, wie fast alles im Erzbistum Hamburg.
Auch die Zukunft der katholischen Caritas. Mehr und mehr droht sie zerrieben zu werden zwischen unzureichender staatlicher Refinanzierung, privater Konkurrenz, einem immer größer werdenden Mangel an Arbeitskräften und manchmal auch einer schlechten Betriebsführung. Stefan Dreyer, seit dem vergangenen Jahr erster Diözesancaritasdirektor des Erzbistums Hamburg, sieht die Caritas am Scheideweg. „Der neue Erzbischof muss entscheiden.“ Was? Wenn die „Katholizität“ einer Einrichtung auch künftig nur daran bemessen wird, wie viele Mitarbeiter katholisch sind oder wenigstens getauft, dann wird die ohnehin kleine Caritas im Norden bald noch kleiner werden. Würde hingegen die Kirchenmitgliedschaft zu einem Element der Unternehmensidentität, das viele Menschen anzieht und ansteckt, dann müsste es einem um die Caritas in Schwerin oder in Itzehoe nicht bange sein.
Der Weg von Mecklenburg zurück nach Hamburg führt über Ratzeburg, der alten, wasserumschlossenen Bischofsstadt des Herzogtums Lauenburg. Mit den Katholiken war es nach der Reformation hier vorbei, wie überall im Norden. Viele sind sie auch heute nicht. Immerhin haben sie nochmals einen Pfarrer bekommen, aber was für einen. „Die meisten hier brauchen den Gott der Christen nicht“, hat Germain Gouèn beobachtet. Das war schon einmal so. Fast tausend Jahre ist es her, dass Benediktinermissionar Ansverus in der Nähe des heutigen Ratzeburg von heidnischen Abodriten gesteinigt wurde.
Aber worin besteht die Mission des Mannes aus Nigeria? „Wir leben in einer Kultur der Schnelllebigkeit“, sagt Pfarrer Gouèn. „Aber Gott antwortet nicht so schnell.“ Und: „Das ,Wir‘ ist nicht mehr so wichtig, das ,Ich‘ zählt, das ist der Grund, warum die Kirche in Europa abnimmt.“ Die Katholiken der Inselstadt kommen aus Italien und Russland, Spanien und Polen, Bulgarien und Italien. Sie sind zu wenige, als dass sie sich in religiös-kulturellen Parallelwelten selbst genügen könnten. Die Kirche ist ihnen zur neuen Heimat geworden, jung und bunt. So oder anders könnte die Zukunft aussehen.