Messertat in Regionalzug : Die Frage nach dem Warum bleibt offen
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Polizisten sichern Spuren am Tatort in Brokstedt. Bild: AFP
Haben die Behörden den mutmaßlichen Täter des Messerangriffs in Schleswig-Holstein aus den Augen verloren? Verschiedenen staatlichen Stellen war er schon bekannt.
Durch Brokstedt rattert ein Güterzug, die Strecke ist wieder freigegeben, nur ein paar Kerzen auf einem der Bahnsteige erinnern noch an die grauenvollen Szenen, die sich am Vortag hier abgespielt haben. In Panik waren Fahrgäste am Mittwoch aus einem Regionalzug gerannt. Wahllos hatte ein Mann darin mit einem Messer auf Menschen eingestochen. In vier Waggons wurden Blutspuren gefunden. Augenzeugen berichteten, Reisende hätten den Täter mit Koffern beworfen, um ihn aufzuhalten.
Getötet wurde ein Mädchen, 17 Jahre alt, sowie ein Bekannter von ihr, 19 Jahre alt. Beide stammen aus der Region, besuchten eine Schule in Neumünster. Verletzt wurden mindestens fünf weitere Personen, zwei davon lebensgefährlich. Das gaben Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) und Vertreter von Polizei und Staatsanwaltschaft am Donnerstag in Kiel bekannt.
Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich den Angaben nach um den 33 Jahre alten staatenlosen Ibrahim A. Er wurde in Palästina geboren und reiste Ende 2014 nach Deutschland ein, wo er Asyl beantragte. A. lebte bis Ende 2020 in Nordrhein-Westfalen, Kreis Euskirchen, 2021 dann überwiegend in Kiel, zuletzt vermutlich in Hamburg.
Erst kürzlich aus der Untersuchungshaft entlassen
Er erhielt 2017 subsidiären Schutz, allerdings wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Ende 2021 ein Widerrufs- und Rücknahmeverfahren eingeleitet mit dem Ziel einer Ausreise. Wie das Verfahren ausging, war zunächst unklar. Allerdings ist die Abschiebung staatenloser Personen äußerst schwierig. Es braucht einen Staat, der sich zur Aufnahme bereit erklärt. A. war nach Angaben des Kieler Integrationsministeriums nicht ausreisepflichtig.
Erst vor wenigen Tagen war er aus der Untersuchungshaft in Hamburg aufgrund einer Entscheidung des örtlichen Landgerichts entlassen worden. Er hatte wegen eines Körperverletzungsdelikt eingesessen, auch dabei ging es um eine Tat mit einem Messer. Vom Amtsgericht Hamburg St.Georg war A. zu einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung verurteilt worden wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahls.
Dem Urteil zufolge hatte A. im Januar 2022 einen Mann vor einer Hamburger Obdachlosenunterkunft mit einem Messer angegriffen und verletzt. Beide hätten in einer Schlange zur Essensausgabe gestanden und seien in Streit geraten. Allerdings war das Urteil den Angaben nach noch nicht rechtskräftig.
A. hatte Berufung eingelegt, es kam zu Verzögerungen und weil er fast ein Jahr in U-Haft verbrachte, hob das Landgericht den Haftbefehl auf. Wohin er nach seiner Entlassung ging, blieb am Donnerstag offen. Einen festen Wohnsitz schien er nicht gehabt zu haben.
Lange Gewaltgeschichte
Bereits Ende 2021, also wenige Wochen vor der Tat vor der Obdachlosenunterkunft, war A. in Hamburg erstmals polizeilich in Erscheinung getreten, sagte der Sprecher der Hamburger Innenbehörde. Es sei dabei um Körperverletzung gegangen. In Kiel war A. polizeibekannt wegen Streitigkeiten und Ladendiebstahls. Er hatte drei Vorstrafen, zudem dann die Freiheitsstrafe. In Schleswig-Holstein gab es keine Verfahren gegen ihn, er galt der in dem Land geltenden Regelung nach nicht als Intensivtäter.
Das Jahr 2021 hatte A. fast vollständig in einer Gemeinschaftsunterkunft in Kiel gewohnt, hatte dort aber ein Hausverbot erhalten, weil er Mitbewohner belästigt und auffällig geworden war. Was danach mit ihm geschah und wo er sich – abgesehen von der Untersuchungshaft – aufhielt, blieb zunächst offen. Am Mittwochmorgen, dem Tag des Messerangriffs, hatte er in Kiel bei einem „Infopoint“ vorgesprochen, eine städtische Kontaktstelle der Behörden.
Die Mitarbeiter hätten ihn aber aufgrund des unklaren Aufenthaltsortes an die Obdachlosenhilfe und das Einwohnermeldeamt verwiesen, sagt Christian Zierau, Stadtrat aus Kiel. Dort sei er aber nicht angekommen. Auffälligkeiten hätten die Mitarbeiter keine festgestellt.
A. wurde am Mittwoch leicht verletzt von der Polizei festgenommen, er leistete keinen Widerstand. Am Donnerstag wurde er in Untersuchungshaft genommen. Nach dem Angriff war der Täter offenbar von Fahrgästen überwältigt und von der Polizei auf dem Bahnsteig festgenommen worden. Dort war die Situation nach Angaben von Frank Matthiesen von der Polizeidirektion Itzehoe „unübersichtlich und chaotisch“.
Im örtlichen Bürgerhaus, das gleich gegenüber des Bahnhofs liegt, hatten Helfer rasch einen Raum hergerichtet, in dem Menschen, die in dem Zug gesessen hatten, Decken und warme Getränke erhielten. Der örtliche ehrenamtliche Bürgermeister Clemens Preine spricht gegenüber dieser Zeitung von einer „erschütternden Szenerie“: Viele Menschen seien völlig hilflos umhergeirrt. Aber er berichtet auch von großer Hilfsbereitschaft und darüber, dass eine 80 Jahre alte Frau die Türen des Bürgerhauses geöffnet habe und davon, wie die Seelsorger Betroffene im örtlichen Feuerwehrgerätehaus betreut hätten.
Brokstedt hat etwas mehr als 2100 Einwohner, viele Backsteinhäuser und drumherum viel flaches Land; auf den Weiden stehen an diesem Tag ein paar Pferde im Nebel. Viele Menschen aus dem Ort pendelten selbst mit dem Zug, sagt Bürgermeister Preine, das mache nun alle nur noch mehr betroffen. Im Ort halte man zusammen, engagiere sich stark, auch in Vereinen. „Das wird nun Kraft geben, um dieses schlimme Ereignis zu verarbeiten.“
Die Frage nach dem Warum aber, die bleibt am Donnerstag offen – wie oft bei derlei Taten. Das Motiv sei „völlig unklar“, sagt Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge von der Staatsanwaltschaft Itzehoe. Bisher gebe es auch keine Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund oder eine lange im Voraus geplante Tat. Die Mordkommission Itzehoe bittet die Bevölkerung nun um Hinweise und hat ein Portal für das anonyme Hochladen von Video- oder Fotodateien eingerichtet.