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Mehr Missbrauchsfälle : Zwei Kinder pro Schulkasse werden zu Opfern

Absperrband auf einem Campingplatz in Lügde, hier wurden Kinder Opfer von Missbrauch. Bild: dpa

Die Zahl der Missbrauchsfälle von Kindern steigt: Etwa 40 werden täglich in Deutschland missbraucht, im Schnitt trifft es zwei Kinder pro Schulklasse. Verbände kritisieren, die Jugendämter seien finanziell zu schlecht ausgestattet.

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          In Deutschland sind immer mehr Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt. Insgesamt waren es allein im Jahr 2018 insgesamt 14.606 Kinder, in Wirklichkeit aber weit mehr. Denn die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik geben nur das Hellfeld wieder, das Dunkelfeld dürfte weit größer sein. Etwa 40 Kinder werden täglich in Deutschland missbraucht, pro Schulklasse sind es ein bis zwei, die regelmäßig sexuelle Übergriffe erleben. Die Zahl für das Jahr 2018 sei im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent gestiegen, sagte der Präsident des Bundeskriminalamts (BKA) Holger Münch am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung der polizeilichen Kriminalstatistik zu Kindern als Gewaltopfer.

          Heike Schmoll
          Politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.

          Die Zahlen zum allgemeinen Kindesmissbrauch liegen auf einem gleichbleibenden Niveau. Die Aufklärungsquote liegt bei 80 Prozent. Da die Täter allerdings meist aus dem sozialen Umfeld der Opfer stammten, sei die Bereitschaft zur Anzeigenerstattung gering, sagte Münch. 136 Kinder kamen gewaltsam zu Tode, fast 80 Prozent von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Außerdem kam es in 98 Fällen zu einem Tötungsversuch.

          Auch die Zahl der aufgedeckten Fälle zu Herstellung, Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie stieg im vergangenen Jahr um mehr als 14 Prozent auf 7449 Fälle. „Das Internet spielt dabei eine zentrale Rolle – der Missbrauch setzt sich virtuell fort“, sagte Münch. Der BKA-Präsident führte den Anstieg der aufgedeckten Fälle auf eine höhere Zahl von Hinweisen vor allem aus den Vereinigten Staaten und neue technische Möglichkeiten zurück. So habe sich das Meldeverhalten von amerikanischen Providern und Anbietern stark verbessert. Allein im Jahr 2018 gingen 70.000 Hinweise beim BKA ein, Doppelmeldungen werden rasch herausgefiltert und in 20.000 Fällen wurde weiter ermittelt.

          „Wer wegschaut, macht sich mitschuldig“

          Erst Anfang Mai sei eine Bilderserie aus Amerika an die deutschen Behörden geschickt worden, aufgrund „ technischer Ermittlungen“ wie Sprach- und Bilderkennung habe der Ort, an dem das Material hergestellt wurde, schnell identifiziert werden können. Vier Tage später habe die Polizei den Täter gehabt. Allerdings war dieser Fall für das BKA nur ein Teilerfolg, weil die Ermittlungen zeigten, dass die Körper der Opfer „vernarbte Spuren“ sexueller Misshandlungen aufwiesen. Es habe sich gezeigt, dass es schon ein Jahr davor einen Hinweis auf den im Internet unter Pseudonym agierenden Mann gegeben habe. Da seine IP-Adresse nicht gespeichert worden sei, habe die Polizei ihn damals nicht ausfindig machen können. Münch appellierte an die Bevölkerung wachsam zu sein. Wer auf strafbare Handlungen aufmerksam werde solle Strafanzeige erstatten, um das Leid der betroffenen Kinder zu beenden. „Wer wegschaut, macht sich mitschuldig“, so Münch.

          Ein Fünftel der Ermittlungsverfahren muss noch immer eingestellt werden, weil die IP-Adresse des Verdächtigen der einzige Ermittlungsansatz war und nicht mehr gespeichert war. Münch plädierte deshalb für eine EU-konforme Vorratsdatenspeicherung. Der EU-Gerichtshof hatte die anlasslose Überwachung und Datenspeicherung schon Ende 2016 untersagt. Von 25 Mitgliedstaaten haben jedoch 22 Länder eine Art der gesetzlichen Vorratsdatenspeicherung, in sechs Ländern laufen Klagen dagegen. Die EU-Justizminister haben die Europäische Kommission beim Justizministerrat am Donnerstag dazu aufgefordert, Lösungen für die Vorratsdatenspeicherung in einer Studie zu untersuchen und eine europäische Gesetzesinitiative vorzubereiten.

          Es sei unerträglich, dass mehrere Tausend Hinweise auf Kinderpornographie nicht weiterverfolgt werden könnten, weil die Verbindungsdaten fehlten, sagte der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei. Er forderte ein höheres Strafmaß beim Besitz von Kinderpornographie. Ermittler müssten auch straflos computergenerierte Missbrauchsbilder verwenden dürfen, damit sie sich Zutritt zu den kriminellen Kinderpornographieforen verschaffen könnten, die sich vor allem im Darknet finden.

          „Institutionelle Kindeswohlgefährdung“

          Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Kinderhilfe Rainer Becker rief dazu auf, „Kinder und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, ihnen zuzuhören und sie ernst zu nehmen“. Die Sozialpädagogin Kathinka Beckmann, die an der Hochschule Koblenz Professorin für klassische und neue Arbeitsfelder der Pädagogik der Frühen Kindheit ist, beklagte die Situation der Jugendhilfe vor allem im Blick auf die Fälle in Lügde und Stauffen. Während Kitas, Heime und ambulante Dienste von den Landesjugendämtern beaufsichtigt würden, unterlägen die Jugendämter mit Ausnahme von Hamburg keinerlei Fachaufsicht.

          „Die Hauptakteure im Kinderschutz – die allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter – unterliegen defizitären strukturellen Rahmenbedingungen“. Da der Bund den Kommunen die finanzielle Ausstattung der Jugendämter überlasse, gebe es häufig eine Ausstattung nach Kassenlage. „Wer in der Jugendhilfe spart, die Jugendämter nicht angemessen mit ausreichend – und ausreichend qualifiziertem – Personal ausstattet, der begeht institutionelle Kindeswohlgefährdung“, mahnte Beckmann. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs Johannes-Wilhelm Rörig forderte die Landesregierungen auf, Landesmissbrauchsbeauftragte einzurichten, ressortübergreifende Bestands- und Defizitanalysen zum Kinderschutz durchzuführen und einen Zeitplan und Finanzierungskonzepte zu erarbeiten. „Die Landesregierungen halten den Schlüssel für besseren Schutz und bessere Hilfen in der Hand“, sagte Rörig.

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