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Knappe Intensivbetten : Mediziner fordern strukturierte Verteilung von Covid-19-Patienten

Intensivbetten im temporären Corona-Behandlungszentrum auf dem Berliner Messegelände Anfang Oktober Bild: dpa

Ärzteverbände erwarten bis Weihnachten erhebliche Engpässe auf Intensivstationen. Sie sehen Hessen und Bayern mit ihren Verteilsystemen als Vorbild.

          3 Min.

          Angesichts täglich steigender Zahlen schwerkranker Covid-19-Patienten fordern Intensivmediziner und Anästhesisten von der Bundesregierung sowie den Landesgesundheitsministerien, die Verteillogistik zwischen den Krankenhäusern schnellstmöglich zu verbessern. Das geht aus einem Papier der „Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin“ (DGAI) sowie des „Berufsverbandes der Deutschen Anästhesisten“ (BDA) hervor.

          Rüdiger Soldt
          Politischer Korrespondent in Baden-Württemberg.

          Die Mediziner sind der Auffassung, dass es bis Weihnachten zu erheblichen Engpässen auf den Intensivstationen bei der Versorgung von Covid-19-Patienten kommen könnte, wenn ein „unstrukturierter Prozess“ bei der Verteilung der Patienten jetzt nicht behoben wird, denn anders als im Frühjahr lasse sich die Verteilung der Patienten jetzt nicht mehr nur lokal regeln. Alle Bundesländer sollten möglichst dem Beispiel Hessens oder Bayerns folgen, wo die Regierungen Schwerpunktkliniken ausgewiesen hätten.

          „Bereits eine Belegung von 20 Prozent der betreibbaren Intensivbetten mit Covid-19-Patienten wird erwartungsgemäß – insbesondere bei Einrichtungen der Maximalversorgung – zu einer Einschränkung der Behandlung von Nicht-Covid-Patienten führen“, heißt es in dem Papier, das der F.A.Z. vorliegt. Künftig müsse zweimal täglich ermittelt werden, wie viele und welche Intensivbetten und welche Kapazitäten auf den „Intermediate-Care-Stationen“ angesichts der Personalengpässe tatsächlich verfügbar seien.

          Finanzielle Anreize für Kliniken notwendig

          Damit eine Belastungssituation früh erkannt werde, müsse jedes Krankenhaus die Kapazitätsauslastung in vier Stufen unterteilen: weniger als zehn Prozent Covid-19-Patienten, zehn bis 24 Prozent, 25 bis 49 Prozent und mehr als 50 Prozent Covid-19-Patienten. „Erfasst werden müssen nicht die Soll-Kapazitäten, sondern die tatsächlich aktuell mit Personal betreibbaren Intensivbettenkapazitäten“, heißt es in dem Papier.

          Damit innerhalb einer Region Covid-Patienten verlegt werden könnten, müsse es für die Kliniken „monetäre und nicht-monetäre Anreize“ geben, damit diese an Covid-19 erkrankte Patienten überhaupt übernehmen würden. „Ohne eine klare Verordnung der Regierung und ohne finanzielle Anreize wird es wahrscheinlich nicht gehen, denn eine Klinik, die keine Covid-Patienten aufnimmt und den Normalbetrieb zu hundert Prozent weitermacht, steht natürlich auch finanziell besser da“, sagt Götz Geldner, Chefarzt für Intensivmedizin am Klinikum Ludwigsburg und Präsident des „Berufsverbandes der Anästhesisten“ (BDA).

          Einige Kliniken im Südwesten können derzeit bereits keine beatmungspflichtigen Patienten mehr aufnehmen, es gibt sogar Universitätskliniken, die ihre Betten ausschließlich mit Patienten aus ihren Anrainerlandkreisen belegen wollen und die die Annahme von Patienten verweigern.

          Das an Versorgungsclustern orientierte Verteilsystem in Hessen und Bayern, sagte Geldner, könne die Blaupause für eine nationale Lösung sein. „Anders als im Frühjahr können wir den Krankenhausbetrieb jetzt nicht wieder auf die Notfallversorgung herunterfahren. 75 Prozent der normalen Klinikleistungen sollten auch in der Krise weiter erbracht werden. Es gibt viele Tumorpatienten, da verschlechtert eine spätere Operation die Prognose“, sagt Geldner.

          Zentren für Covid-Patienten

          In Baden-Württemberg gibt es gerade Gespräche mit dem Gesundheitsministerium, um die Universitätskliniken in Ulm, Freiburg, Tübingen und Heidelberg sowie die großen Kliniken der Maximalversorgung in Stuttgart, Ludwigsburg und Karlsruhe zu Zentren für die Behandlung von Covid-Patienten zu machen.

          Bei einer „krisenhaften Zuspitzung der Situation“ müssten die Patienten auch zwischen den vom Bundesgesundheitsministerium definierten fünf Großbereichen (Norden, Osten, Nordrhein-Westfalen, Südwesten, Bayern) verlegt werden. Geändert werden müsse auch die Systematik der Weiterverlegung: Es sei besser, die schwer an Covid-19 erkrankten Patienten in den Krankenhäusern aufzunehmen und zur Schaffung von Kapazitäten zunächst diejenigen zu verlegen, die schon längere Zeit in einer Klinik intensivmedizinisch versorgt worden seien, weil sie möglicherweise weniger infektiös seien. Neu aufgenommene Patienten seien aus „medizinischer, logistischer und infektiologischer Sicht“ für Transporte über längere Strecken eher schlecht geeignet.

          Kritik an Baden-Württembergs Gesundheitsminister Lucha 

          Bei Ärzten und in den Landkreisen im Südwesten wächst die Kritik am Krisenmanagement des baden-württembergischen Gesundheitsministers Manfred Lucha (Die Grünen), sein Ministerium habe es versäumt, in der Sommerpause, als nur sehr wenige Covid-Patienten in den Kliniken behandelt wurden, eine Verteillogistik für die schwerkranken Patienten aufzubauen und die Digitalisierung der Datenaufnahme von positiv getesteten Bürgern in den Gesundheitsämtern voranzutreiben.

          Kritisiert wird auch, dass sich Baden-Württemberg im Vergleich zu Bayern mit der Beschaffung von Antigen-Schnelltests viel Zeit genommen habe. Die Bayerische Staatsregierung lieferte schon Mitte Oktober etwa eine halbe Million Antigen-Schnelltests an die Landkreise aus, in Baden-Württemberg bewilligte der Landtag erst an diesem Donnerstag den Kauf der Schnelltests in Höhe von 44 Millionen Euro. Das Land will mit dem Geld etwa fünf Millionen Tests beschaffen. Aus Sicht vieler Ärzte erfolgte die Bestellung viel zu spät.

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