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Internationaler Vergleich : Viele Abiturienten, weniger Bildung

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Aufmunterung: Auf Abiplakaten in Frankfurt versprechen Schüler einander „tausend schöne Dinge“ nach der letzten Prüfung. Bildungsforscher sehen die Sache nüchterner. Bild: Eilmes, Wolfgang

Hohe Abiturientenquoten sind kein Zeichen höherer Bildung, ganz im Gegenteil. Empirische Studien belegen, dass die allgemeine Hochschulreife keineswegs die höchsten Kompetenzstufen erwarten lässt. Ein Gastbeitrag.

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          Dass möglichst viele junge Menschen Abitur machen und studieren sollten, gehört zu den Dogmen aktueller Bildungspolitik. Wer studiert hat, könne ein höheres Einkommen erwarten, sei besser vor Arbeitslosigkeit geschützt, lebe infolge höherer Bildung gesünder und trage mit all dem zu einem höheren Volkseinkommen bei – so die humankapitalistische Heilslehre der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Deshalb brauche Deutschland mehr Abiturienten und Akademiker, zumal ihr Anteil in anderen Ländern viel höher liege.

          Als Beispiel für ein in diesem Sinne fortschrittliches Land wird oft Frankreich genannt, wo angeblich 80 Prozent eines Jahrgangs Abitur machen. Doch da wird eine vor drei Jahrzehnten aufgestellte Zielmarke mit der Wirklichkeit verwechselt. Im internationalen Vergleich ist schon die Ermittlung der bloßen Quoten schwierig. Denn die einschlägigen Statistiken der OECD enthalten alle Abschlüsse der Sekundarstufe II, auch solche, die nicht zur Hochschul- oder Fachhochschulreife führen. Zudem sind sie lückenhaft und verwirren durch ungeklärte Doppelzählungen.

          Um an differenzierte Daten zu gelangen, muss man auf Publikationen der nationalen Ministerien und statistischen Ämter zurückgreifen. Für England wiederum fehlen solche Zahlen, weil es dort keine allgemeine Hochschulreife gibt, sondern die Universitäten autonom über die Zulassung von Studienbewerbern entscheiden.

          Bild: F.A.Z.

          Das untenstehende Diagramm zeigt die Studienberechtigtenquoten Deutschlands, Frankreichs und Italiens als der bevölkerungsreichsten Länder der EU. Die Vereinigten Staaten wurden einbezogen, weil sie mit einer Studienanfängerquote von etwa 70 Prozent seit langem als Vorbild der Akademisierung gelten. Österreich und die Schweiz sind dabei, weil dort – wie in Deutschland – die duale Berufsausbildung als Alternative zum Studium eine wichtige Rolle spielt. Die Abschlussquoten scheinen einen enormen Bildungsrückstand der deutschsprachigen Länder zu belegen. Doch zu der zentralen Frage, ob diese Abschlüsse auch qualitativ vergleichbar sind, gibt es bisher keine Untersuchungen. Daher bietet es sich an, sie mit den Resultaten der Pisa-Studie von 2009 in Beziehung zu setzen. Denn aus den damals fünfzehnjährigen Schülern rekrutiert sich ja der größte Teil der Studienberechtigten des Jahres 2012. Für diesen Vergleich wurden die nationalen Pisa-Mittelwerte aus den drei Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften berechnet.

          Man sollte annehmen, dass es sich bei den Studienberechtigten vor allem um Jugendliche mit den höchsten Kompetenzen handelt, also solche auf den Kompetenzstufen 4 bis 6. Doch in Ländern mit hohen Abiturientenquoten rekrutieren diese sich auch, ja sogar überwiegend aus Schülern der Kompetenzstufen 2 und 3, die bei Pisa als mittelmäßig charakterisiert werden. Kompetenzstufe 2 gilt dort als das Basisniveau, das es Schülern ermöglicht, „effektiv und produktiv am Leben teilzuhaben“. Nur in der Schweiz schöpft die Abiturientenquote das Potential der laut Pisa leistungsstarken Schüler nicht aus. Das bedeutet, dass die von vielen Bildungspolitikern als wichtige Messzahl angesehene Studienberechtigtenquote nichts über die Qualität der jeweiligen Abschlüsse aussagt. Zudem erfassen die Pisa-Daten ja nur einen Ausschnitt dessen, was in Sekundarschulen gelehrt wird. So macht es zum Beispiel keinen Unterschied, ob Fünfzehnjährige eine oder mehrere Fremdsprachen lernen – sie alle zählen bei Pisa nicht. Dasselbe gilt für Kenntnisse in Philosophie und Literatur, Geschichte/Politik, Kunst und Musik – eben vieles, was traditionell zur Allgemeinbildung gehört.

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