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Kritik am Urteil zur Parität : Von wegen Identitätsjustiz

Die Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofs verkünden ihr Urteil zum Paritätsgesetz. Bild: dpa

Ist das Paritätsgesetz nur gekippt worden, weil die Mehrheit der Richter männlich ist? Das suggerieren einige linke Politiker. Sie bedrohen damit nicht nur die Integrität der Justiz.

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          Diese Woche entschied das höchste Thüringer Gericht, dass man Parteien nicht gesetzlich vorschreiben darf, ihre Wahllisten zur Hälfte mit Frauen zu besetzen. Einige Linke führten das darauf zurück, dass die Mehrheit der Richter, die so entschieden hatten, männlich ist. Sie suggerierten, es sei nicht darum gegangen abzuwägen, ob die Einschnitte des Gesetzes schwerer wiegen als die Vorteile, die es für die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau bringt. Sondern darum, eine Stimme abzugeben als Vertreter eines bestimmten Geschlechts. Und weil die Männer im Thüringer Verfassungsgerichtshof nun mal in der Mehrheit waren, hätten sie sich durchgesetzt.

          Ralf Stegner, Fraktionsvorsitzender der SPD im Schleswig-Holsteinischen Landtag, schrieb auf Twitter, Männer, „die ein bisschen Grips haben“, unterstützten das Paritätsgesetz. Geht es nach Stegner, haben die Männer am Thüringer Verfassungsgerichtshof also keinen Grips. Nicht mal ein bisschen. Sonst hätten sie ja anders geurteilt. Die Grünen im Thüringer Landtag schrieben, sie bedauerten die „Entscheidung des überwiegend männlich besetzten Verfassungsgerichts“. Und der Bundestagsabgeordnete Niema Movassat von der Linken teilte auf Twitter ein Foto von Mitgliedern des Thüringer Verfassungsgerichtshofs – viele Männer, eine Frau. Movassat schrieb dazu, ihn überrasche das Urteil nicht. Daraus musste man schließen: Hätten am Verfassungsgerichtshof mehrheitlich Frauen das Sagen, wäre das Urteil anders ausgefallen.

          Movassat stellte so die Legitimität eines Gerichts in Frage, das seine Partei wie kaum eine andere geprägt hat. Die Linke ist mit vielen Abgeordneten im Thüringer Parlament vertreten, seit langem. Sie hat ein Wörtchen mitzureden bei der Ernennung von Richtern am Verfassungsgerichtshof. Es waren auch ihre Richter, die das Paritätsgesetz verworfen haben. Schon das zeigt, wie populistisch Movassat daherredet. Wenn man seinen Gedanken weiterdenkt, können Männer ausschließlich im Sinne anderer Männer urteilen.

          Sie sind außerstande, bei einem Urteilsspruch von ihrem Geschlecht abzusehen und zugunsten von Frauen zu entscheiden. Das muss dann aber auch umgekehrt gelten: Frauen treten grundsätzlich für die Interessen anderer Frauen ein. Dabei ist nicht gesagt, dass ein mehrheitlich weiblich besetztes Gericht beim Paritätsgesetz zu einem anderen Urteil gelangt wäre. Schließlich gibt es für dieses Urteil gewichtige Argumente.

          Für jede Gruppe einen Richter

          Movassat suggeriert, dass all das nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dass es vor allem um das Geschlecht geht, um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Damit ist er nicht allein. Viele Politiker in Deutschland vertreten inzwischen identitätspolitische Positionen. Die laufen auf eine problematische Annahme hinaus: Dass kein Mensch in der Lage ist, unparteiisch zu sein. Denn jeder gehört zu einer Gruppe. Und nur für die könne er eintreten.

          Wohin das führt, kann man sich ausmalen: Es könnte in Deutschland kein einziger Richter mehr ein Urteil über einen Arbeitslosen fällen. Denn wer ein Richteramt innehat, ist nicht arbeitslos, kann sich also nicht in sein Gegenüber hineinversetzen. Für jede Gruppe, Schwarze, Weiße, Hetero- und Homosexuelle, Hobbyköche und Bonsaibaumzüchter, müsste es eigene Richter geben. Dieser Gedanke bedroht die repräsentative Demokratie. Die kann nur funktionieren, wenn Richtern zugestanden wird, im Namen des Volkes zu urteilen, und Politikern, das Volk zu vertreten. Sie kann nur funktionieren, wenn Bürger zu einem Ausgleich finden. Dafür braucht es den Glauben, dass sie sich in andere hineinversetzen, im Zweifel sogar für sie sprechen können.

          Morten Freidel
          Redakteur in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

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