Angebliche Vergewaltigung : Liebesgrüße aus Moskau
- -Aktualisiert am
Im Dienste Moskaus: Russischsprachige Demonstranten vor dem Kanzleramt Bild: dpa
Vor dem Kanzleramt demonstrieren 700 Menschen gegen eine Vergewaltigung, die es nie gegeben hat. Es ist das Werk von Kremlmedien, die gezielt versuchen beim Streit über die deutsche Flüchtlingspolitik Öl ins Feuer zu gießen.
Ein Mädchen war länger als einen Tag verschwunden. Eltern suchten die 13 Jahre alte Schülerin aus Berlin-Marzahn mit Plakaten und Fotos, meldeten sie bei der Polizei als vermisst. Tags drauf, es war der 12. Januar, war sie wieder da und erzählte ihren Eltern zunächst angeblich, Männer, die gebrochen Deutsch sprachen und „Südländer“ seien, hätten sie in einem Auto entführt, in einer Wohnung geschlagen und vergewaltigt. Die Polizei sprach mit den Eltern und mit dem Mädchen allein und stellte fest, es habe „keine Entführung und keine Vergewaltigung“ gegeben. Mehr werde man nicht sagen, um die Persönlichkeitsrechte des Kindes zu schützen.
Dass die Polizei überhaupt diese Mitteilung machte, begründete sie mit einem „Interesse der Netzgemeinde“ und Diskussionen „in den sozialen Medien“. Doch diese Diskussionen hatte vor allem das russische Staatsfernsehen befeuert, mit einem Beitrag des „Perwij Kanal“ am 16. Januar über eine angebliche Vergewaltigung des Mädchens. Die Moderatorin sprach eingangs von Beweisen für Übergriffe von Migranten auf Minderjährige in „der neuen Ordnung, die jetzt in Deutschland herrscht“. Der Bericht stützte sich dann auf Aussagen von Tante und Onkel des Mädchens. Die Polizei kam nicht zu Wort, angeblich wegen des Wochenendes.
Auch abseits davon gab es Ungereimtheiten. So wurde der Beitrag mit Bildern von schwedischen Polizisten und einem angeblichen Bekennervideo angereichert, in dem ein junger Mann, offenbar ein Türke, mit einer Vergewaltigung prahlt. Das Video ist schon seit 2009 auf der Plattform Youtube verfügbar. Verbreitet wurde es von einem rechtsextremen „Anonymous Kollektiv“, das zu Gewalt gegen Politiker und Journalisten aufruft und mit der Hackergruppe „Anonymous“ nichts zu tun hat. Auch andere russische Sender zeigten das „Bekenntnis“ als Illustration einer angeblichen Tatenlosigkeit der deutschen Polizei.
„Ende der alten Welt“
Die russischen Medien schwadronieren schon seit Jahren über Europas Untergang. Seit sich die Flüchtlingskrise verschärft hat und es Russland wirtschaftlich schlechter geht, verbreiten sie immer schillerndere Untergangsberichte über das „Ende der alten Welt“. Am „Fall Lisa“ aber ist neu, dass die Kremlmedien gezielt versuchen, im deutschen innenpolitischen Streit über die Flüchtlingspolitik Öl ins Feuer zu gießen und diejenigen aufzuhetzen, deren Vertrauen in Politik, Polizei und Medien gering ist.
Der „Perwij Kanal“ hatte in seinem Bericht den Artikel eines Internetportals namens „Genosse.su“ zu dem Thema eingeblendet. Es wird von einem „Internationalen Konvent der Russlanddeutschen“ betrieben. Dessen Vorsitzender wurde in den vergangenen Tagen vielfach im russischen Staatsfernsehen und auch von der kremltreuen „Komsomolskaja Prawda“ zitiert. Etwa mit dem Vorwurf gegenüber der Polizei, das Mädchen und ihre Eltern einzuschüchtern und die Mutter mit Entzug des Sorgerechts bedroht zu haben.
Den Medien warf er vor, den Vorfall aus „politischer Korrektheit“ zu verschweigen. Der „Perwij Kanal“ zitierte einen erzürnten Berliner Russen, der sagte, auf Gewalt müsse man mit Gewalt antworten. Der Mann wurde als Teilnehmer einer „Marzahner Volksversammlung“ vorgestellt, die in Wirklichkeit eine NPD-Kundgebung am 16. Januar war.
Eine offenkundig erfundene Geschichte
Zwei Tage später waren NPD-Funktionäre unter den 300 vor allem russischsprachigen Teilnehmern einer Protestkundgebung zum „Fall Lisa“ in Marzahn, die von der Polizei aufgelöst wurde. Das Video des „Perwij-Kanal“-Beitrags findet sich mittlerweile mit deutschen Untertiteln auf Youtube. In den Kommentarfelder liest man Zeilen wie diese: „Hoffentlich werden die Russen was dagegen unternehmen, da die Deutschen anscheinend nicht die Eier dafür haben.“ Auch für den russischen Sender „Rossija 24“ war klar, dass das Mädchen von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden sei. Das sogenannte Enthüllungsblatt „Sowerschenno Sekretno“ brachte vorige Woche eine offenkundig erfundene Geschichte, nach der rund 400 Russlanddeutsche in Bruchsal eine Flüchtlingsunterkunft angegriffen hätten:
„Die Ausschreitungen von Migranten zwingen örtliche Männer dazu, Waffen in die Hände zu nehmen und Ausländern eine Lektion zu erteilen.“ Das „Pogrom“ hänge „nach Ansicht der Männer“ mit der „Vergewaltigung des 13 Jahre alten russischen Mädchens Lisa durch Übersiedler“ zusammen. „Russische Migranten standen als erste für den Schutz ihrer Familien mit der Waffe in der Hand auf.“ Der Beitrag wurde auf eine Vielzahl russischsprachiger Internetseiten kopiert.
Schon eine Woche, nachdem das Mädchen wieder aufgetaucht war, hatte die Berliner Boulevardzeitung „B.Z.“ verzweifelt getitelt: „Warum glauben so viele der NPD und Putins Presse mehr als der Berliner Polizei?“ Justizsenator Thomas Heilmann (CDU) sagte der Zeitung: „Mit Falschmeldungen, unbewiesenen Beschuldigungen und Verleumdungen schaden sie dem Rechtsstaat und den Opfern.“ Für die Familie des Mädchens tritt mittlerweile ein Anwalt auf. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, der Verdacht auf sexuellen Missbrauch einer Minderjährigen steht im Raum. Man gehe von einem „einvernehmlichen Kontakt“ aus.
„Heute mein Kind – morgen dein Kind“
Doch dank der Mobilisierung hat die Geschichte längst ein Eigenleben entwickelt. Vorläufiger Höhepunkt der vermeintlichen Solidarität war eine Demonstration unter dem Motto „Wir sind gegen Gewalt“ am Samstag vor dem Kanzleramt in Berlin. Angemeldet hatte sie der „Internationale Konvent der Russlanddeutschen“, auch der Berliner Pegida-Ableger („Bärgida“) hatte zur Teilnahme aufgerufen. Laut Polizeiangaben kamen etwa 700 Demonstranten.
Sie trugen Schilder mit Aufschriften wie „Unsere Kinder sind in Gefahr“, „Lisa, wir sind mit dir“ und „Heute mein Kind – morgen dein Kind“. Die Deutsche Welle berichtete, der Vorsitzende des „Konvents der Russlanddeutschen“ sei laut einer Teilnehmerin im Zusammenhang mit der Demonstration nach Moskau geflogen, was der Mann gegenüber dem Sender nicht habe kommentieren wollen.
Vor dem Kanzleramt dabei war am Samstag auch Alexander Reiser vom Verein „Vision“, der sich um Integration Russlanddeutscher bemüht. Er sagt, von den etwa 30.000 Spätaussiedlern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf leben, seien nur die Hälfte deutschstämmig oder Menschen, die schon lange Deutsch sprechen. Die andere Hälfte seien Ehepartner, die weiterhin russische Medien mehr nutzten als deutsche. Man habe der Familie des Mädchens Unterstützung angeboten, doch sei diese nicht angenommen worden.
Reißen alte Gräben weder auf?
Die Aufrufe zur Demonstration seien „professionell gemacht“, sagt Reiser. Er befürchtet, dass die traurige Geschichte dazu genutzt wird, alte Gräben zwischen Einheimischen und Russlanddeutschen wieder aufzureißen, die sein Verein seit Jahren zu glätten sucht. Als der dritte Redner am Samstag geschildert habe, wie das Kind 30 Stunden lang von drei Arabern vergewaltigt worden sei, sei ihm der Geduldsfaden gerissen, berichtet Reiser. „Warst du dabei?!“ habe er gerufen – und dann rasch aus der Gruppe herausgedrängt worden.
Auch der Reporter des „Perwij Kanal“, der den Fall am 16. Januar publik gemacht hatte, war vor dem Kanzleramt dabei; er berichtete dann von Einschüchterungsversuchen an die Adresse der Demonstranten. Der Leiter des Berliner Verfassungsschutzes, Bernd Palenda, sagte am Samstag dem Sender RBB, neben „emotionalisierten Bürgern“ versuchten Rechtsextremisten, „hier mit aufzuspringen“ und eine „Destabilisierung der Situation herbeizuführen“.