
Kommentar : Der Strafprozess ist kein Zirkus
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Auch wenn die Öffentlichkeit an vielen Gerichtsprozessen so wie jetzt am Auschwitz-Prozess in Lüneburg ein reges Interesse hat, darf doch eines nicht vergessen werden: Vor Gericht geht es nicht um mediale Aufbereitung.
Die Erwartungen sind hoch: Im Prozess gegen einen früheren SS-Buchhalter in Auschwitz geht es nach Ansicht von Opfern und Nebenklägern um nicht weniger als um die Dokumentation eines jahrzehntelangen Versagens der deutschen Justiz. Zwar solle am 93 Jahre alten Angeklagten kein Exempel statuiert werden, heißt es. Zugleich aber sah sich eine Überlebende, die ihren einstigen Bewacher umarmte und ihm öffentlich vergab, heftiger Kritik ausgesetzt.
Der eigentliche Sinn des Strafprozesses gerät dabei leicht in den Hintergrund. Es soll in einem fairen Verfahren die individuelle Schuld des Angeklagten geklärt werden. Stattdessen wird der Gerichtssaal zur Bühne, auf der alles zur Vorführung kommt - selbst wenn das bei einem in dieser Form einzigartigen Massenverbrechen menschlich verständlich ist.
Doch das ist kein Einzelfall. Auch in Prozessen gegen Bankvorstände und Wirtschaftsführer hat man oft den Eindruck, hier gehe es um mehr, hier stehe eine Kaste, ja das ganze System am Pranger. Nachdem der Straftatbestand der Untreue jahrzehntelang - und schändlicherweise - vor allem ein Delikt für Verwalter und Kassierer war, nicht aber für die wirklich Mächtigen, wird der Spieß jetzt radikal umgedreht. Nun können auch ein paar Hubschrauberflüge zu viel und die Verwicklung in komplexe Wirtschaftsvorgänge als solche mit Gefängnis bestraft werden.
Zudem ist das Drumherum wichtiger geworden als die Ermittlung des Tathergangs und dessen strafrechtliche Würdigung. Heute ist die mediale Begleitung wichtig. Öffentlichkeit heißt eben auch Medienöffentlichkeit. Es geht um Information, aber auch um Kontrolle der dritten Gewalt - und die Justiz muss sich dieser Kontrolle stellen. Deshalb war die Posse um die Vergabe der Plätze für Medienvertreter im NSU-Prozess so peinlich.
Aber die Belange der Öffentlichkeit und der Medien (die nicht unbedingt deckungsgleich sind) dürfen nicht dem eigentlichen Zweck des Strafverfahrens zuwiderlaufen. So darf ein Beschuldigter weder vorverurteilt noch bloßgestellt werden. Das ist leichter gesagt als getan in Zeiten, in denen manche schon Live-Übertragungen aus Gerichtssälen fordern. Aber ist nicht schon die Zurschaustellung vor Prozessbeginn oder gar das mittlerweile halböffentliche Ermittlungsverfahren ein Pranger? Allein das Ritual des Blitzlichtgewitters vor dem eigentlichen Beginn einer Hauptverhandlung ist doch der Spießrutenlauf eines Delinquenten, dessen Ruf dann auch durch einen Freispruch kaum noch zu retten ist.
Die Justiz ist zu erstklassiger Arbeit in der Lage
Dass Beschuldigte und Angeklagte aus guten Gründen ihr Gesicht zu verbergen suchen, verstärkt paradoxerweise noch den Eindruck, sie hätten tatsächlich etwas zu verbergen. Dabei muss sogar der Hauptangeklagten im NSU-Prozess erst eine Schuld nachgewiesen werden - auch wenn nach den Opfern der Terrorgruppe schon Straßen benannt werden, Untersuchungsausschüsse zum NSU eingesetzt sind und die Angeklagte medial aufgefordert wird, endlich ihr Schweigen zu brechen.
Auch dieser Mammutprozess, der sich mit einer einzigartigen Mordserie befasst, hat nicht das Ziel, das Versagen von Staat und Gesellschaft im Umgang mit rechtsextremistischem Terror zu dokumentieren - auch wenn historische Aufarbeitung und (abermalige) Läuterung, das Noch-einmal-vor-Augen-Führen des Unfassbaren wie auch im aktuellen Auschwitz-Prozess eine wichtige Folge sein mag.
Eins zeigen diese großen Schaufenster-Verfahren aber unbedingt: Die Justiz ist zu erstklassiger Arbeit in der Lage. Die Richter können hochkomplexe Sachverhalte souverän aufarbeiten. Dem steht freilich ein Berg von vermeintlichen Alltagsfällen gegenüber, die liegenbleiben oder zackig entschieden werden (müssen) - Ermittlungen, die gleich wieder eingestellt, oder Verfahren, die schnell durch windige Absprachen beendet werden. Die Scheinwerfer der Öffentlichkeit zeigen nur den Glanz der Justiz, den Rest sieht man nicht.
Mehr Sensibilität ist gefragt
Gänzlich unbeeindruckt ist von starker Medienpräsenz im Übrigen kaum jemand, auch Richter nicht. Das heißt nicht, dass sie unter dem Druck der Berichterstattung einseitig urteilen. Aber dass sich mancher beeinflussen lässt, wird sogar zugegeben: Von den vor einigen Jahren von Mainzer Medienwissenschaftlern befragten etwa 700 Richtern und Staatsanwälten meinten fast alle, Medienberichte hätten einen Einfluss auf die Atmosphäre im Gerichtssaal. Mehr als zwei Drittel gaben an, Zeugenaussagen würden dadurch beeinflusst. Und fast jeder zweite Richter oder Staatsanwalt hatte den Eindruck, Berichte hätten einen Einfluss auf den Ablauf des gesamten Verfahrens.
Kein Wunder, vor Publikum verhält man sich eben anders. Das spricht aber gegen noch mehr Öffentlichkeit und für mehr Sensibilität im Umgang mit den Rechten der Beteiligten. Immerhin hat eine mediale Vorverurteilung schon zu milderen Strafen geführt. Auch Schmerzensgeld ist möglich - in schmerzhafter Höhe.
Manche Prozesse werden zu Schaufenstern. Sie sagen nicht nur etwas über Justiz und Öffentlichkeit, sondern auch über den Zustand der Gesellschaft aus. Wichtig ist, dass der Strafprozess nicht zum Zirkus verkommt.