Populismus : Deutschland braucht wieder Stammtische
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Bild: Greser & Lenz
Der Niedergang des Stammtischs hat politische Folgen. Wer vor Wut platzen möchte und sich nicht mehr in der Kneipe austoben kann, sucht sich neue Kanäle. Und die liegen auf der Straße.
Der Populismus in Deutschland blüht. Schuld ist der Stammtisch. Genauer gesagt: der Untergang des Stammtisches. Zwar ist das Wort Stammtisch nach wie vor vielfach im Gebrauch. Jeder kennt es, es hat sogar einen Wikipedia-Eintrag, wo es sinngemäß heißt: Stammtisch ist sowohl der zumeist runde Tisch selbst als auch die zechende Gesellschaft drum herum. Es gibt heute noch „politische Stammtische“ oder Stammtische für dieses und jenes. Gemeint sind dann aber eher Zusammenkünfte von Gleichgesinnten. Der eigentliche Stammtisch jedoch bildet durch seine Zufälligkeit die Vielfalt der Gesellschaft mehr oder weniger ab. Noch immer wird darum gerungen, die Luft über den Stammtischen zu erobern. Der Stammtisch hat seinen festen Platz in der Karikatur, wie die Karikaturisten Greser und Lenz immer wieder besonders schön zeigen.
Aber den Stammtisch selbst gibt es kaum noch. Dass er vom Aussterben bedroht oder vielleicht schon ausgestorben ist, hat viele Gründe. Die Individualisierung der Gesellschaft hat damit zu tun, das Fernsehprogramm, die Lust am Wegfahren, vielleicht spielen auch die Bierpreise eine Rolle. Gewissermaßen den Todesstoß bekam der Stammtisch durch das Rauchverbot, mit dem nicht nur die Luft über den Stammtischen gereinigt wurde, wie es damals hieß, sondern, gleichsam als Kollateralschaden, die ganze Institution in Frage gestellt war. Die vielen leerstehenden Gasthäuser landauf, landab zeugen vom Ende des Stammtisches.
Sport, Klatsch - und Politik
Stammtisch und Politik stehen in einem Wechselverhältnis. Zum einen geht der Untergang des Stammtisches nicht zuletzt auf politische Entscheidungen zurück. Zum anderen: Als die Stammtischgesellschaft noch blühte, war der Stammtisch ein wichtiger politischer Faktor. Denn Politik dürfte neben lokalem Klatsch und Sport das Hauptthema gewesen sein. Am Stammtisch konnte man sich Luft machen, mit der Faust auf den Tisch hauen und bierselig streiten. Und über politische Korrektheit konnte man mit einem „Prost“ und einem „Noch eins“ hinwegkommen. Das war reinigend, und am nächsten Tag ließ es sich ein wenig leichter mit den Fährnissen und Zumutungen des Lebens umgehen und mit der Kompliziertheit politischer Entscheidungen.
Damit aber ist es so gut wie vorbei. Der Niedergang geschah zuerst im Osten und griff dann auf den Westen über. Bei Greser und Lenz ist die Mehrzahl der Stammtisch-Witze bayerisch geprägt, denn offenbar hat der Stammtisch nur noch im bayerischen Wirtshaus ein Reservat. Wer hätte aber gedacht, dass das Fehlen des Stammtisches gesellschaftliche Folgen haben könnte? Wer alles besser weiß, gern seine Kritik loswerden will oder vor Wut platzen möchte, der kann sich nicht mehr in der Kneipe austoben. Er muss sich neue Kanäle suchen. Und die liegen offenbar auf der Straße.
Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der Technischen Universität Dresden hat als Erster darauf hingewiesen und vom „Stammtisch auf der Straße“ gesprochen - und zwar im Zusammenhang mit Pegida. Pegida-Versammlungen, sagt Vorländer, erschienen ihm ritualisiert: „Anreise aus großer Entfernung, Parken des Autos, Treffen von Freunden, Bier aus dem Kofferraum, leere Bierflasche zurück in den Kofferraum, Geld in die Parkuhr, Gang zur Kundgebung, Ablästern im Kreis Gleichgesinnter, ,Abendspaziergang‘, Rückfahrt, eine Woche Pause, und dann das Gleiche wieder von vorne – und das wochen- und monatelang.“ Das seien alles Funktionen, „die sonst Stammtische übernehmen“.
Was für Pegida gilt, gilt aber auch für die AfD, gilt wohl auch für viele andere Gruppen, die irgendwie politische Ziele verfolgen. Endlich kann man mal was sagen, endlich mal unter Gleichgesinnten. Vor allem aber: Endlich einmal kommt die Wahrheit – nun ja, leider nicht auf den Tisch. Leider fehlt außer dem Tisch auch der Stammtischpartner, der es vielleicht ein wenig anders sieht, mit dem man sich streitet, gern auch einmal laut. Und von dem man zur späten Versöhnung fröhlich ein Bier spendiert bekommt. Stammtische auf der Straße verharren beim ewigen Gemaule und bei der schlechten Laune, erst recht, wenn es kalt und zugig ist. Wie schade also, dass mit dem Geld, das für politische Bildung in Deutschland ausgegeben wird, nicht die Kneipe um die Ecke erhalten und Freibier spendiert werden darf.