Demo gegen Rechts in Kassel : „Wir leben in einer Multikultigesellschaft, sollen sich die Leute mit abfinden“
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Tausende demonstrieren in Kassel gegen den Aufmarsch der rechtsextremen Kleinpartei „Die Rechte“. Bild: dpa
Etwa 10.000 Menschen nehmen an der Gegendemonstration gegen die Proteste der Partei „Die Rechte“ teil. Von den Rechtsextremen ist kaum etwas zu sehen – und der Rest feiert die freie Gesellschaft. Eine Reportage.
„Begleitschutz zum Kiosk!“, so etwas habe sie noch nie erlebt. Eine Anwohnerin der Hafenstraße in Kassel lacht, als sie mit einem Polizeibeamten vom Eisholen zurückkommt. Weil später am Nachmittag hier eine Demonstration der Partei „Die Rechte“ geplant ist, dürfen die Anwohner seit den frühen Morgenstunden nur noch in Begleitung aus dem Haus. Für alle anderen ist die Straße gesperrt.
Kassel befindet sich an diesem Samstag im Ausnahmezustand. Seit Christian Worch, Mitglied der Partei „Die Rechte“, sieben Wochen nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ausgerechnet hier eine Demonstration gegen „Pressehetze“ angemeldet hat, ist der Protest groß.
Mehrmals versuchte die Stadt die Demonstration zu verbieten – ohne Erfolg. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof entschied am Freitag, dass von der Demonstration keine Gefahr für den Schutz der öffentlichen Ordnung ausgehe. Dennoch ist die Kasseler Innenstadt großflächig abgesperrt. Über 2000 Polizeibeamte sind aus ganz Deutschland angereist, um Zusammenstöße zwischen rechten Protestlern und Gegendemonstranten zu vermeiden.
Das „Bündnis gegen Rechts“, ein Zusammenschluss verschiedener Parteien und Vereine, hatte bereits am Dienstag zu einer Gegendemonstration aufgerufen. Innerhalb von 48 Stunden hatten 75 Institutionen ihre Teilnahme angekündigt, am Samstag waren es 120. Das zeigt sich auch am Stadtbild: Etwa als 10.000 Menschen sind nach Polizeiangaben gekommen, überall in der Stadt finden Kundgebungen und kleine Feste statt.
Die Stimmung ist gut. Auf der Hafenbrücke posieren „Omas gegen Rechts“ für ein Gruppenfoto: „Fast wie auf Klassenfahrt!“, rufen sie. Von rechten Demonstranten ist weit und breit nichts zu sehen. Dort, wo die Hafenstraße die Scharnhorststraße kreuzt, sollen sie später vorbeilaufen. Die Gegendemonstranten sind schon seit elf Uhr morgens hier: „Nicht nach Hause gehen, sie kommen noch!“, ruft einer der Organisatoren.
Worch erwarte „88, wenn nicht 100“ Teilnehmer
Am anderen Ende der Hafenstraße, auf dem Unterneustädter Kirchplatz, wartet Christian Worch mit einer Handvoll Mitstreiter vor der ehemaligen JVA. Er erwarte „88, wenn nicht 100“ Teilnehmer, um gegen die „Instrumentalisierung“ des Mordes an Walter Lübcke durch die Presse zu demonstrieren. 88 ist ein Symbol in der rechtsextremen Szene und steht für den Gruß „Heil Hitler“.
Der Platz ist vollständig abgesperrt, in den umliegenden Straßen stehen kleinere Demos hinter der Absperrung. „Nazis raus!“, brüllt es herüber. Auf dem Platz selbst bleibt es ruhig. Die Anreise der restlichen Demonstranten lässt auf sich warten. Bisher sei alles friedlich verlaufen, sagt ein Polizeisprecher, trotz der großen Menschenmenge.
Torsten Felstehausen von der Partei „Die Linke“ hat den Gegenprotest mitorganisiert. Über das Ergebnis ist er glücklich. Die Rechte, das zeige sich nun, habe in Kassel keinen Platz. Nur über eines ärgert er sich: „Das Ausmaß der Sicherheitsvorkehrungen, die hier getroffen wurden, steht in keinem Verhältnis zu der kleinen Gruppe, die hier angereist kommt. Die ganze Stadt ist lahmgelegt. Für diese Leute! Das ist völlig übertrieben.“
Kurze Zeit später fährt ein Bus auf den Platz – Worchs Mitdemonstranten sind angekommen. Bekannte Neonazis, unter anderem aus Dortmund angereist. Man erkennt sie an ihren T-Shirts: „Chemnitz ist überall“, „Keepers of the race“ oder „Solidarität für Ursula Haverbeck“ – die sitzt derzeit wegen Holocaustleugnung im Gefängnis. Einer der rechten Demonstranten wird später wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen festgenommen.
„Die Rechte“ hat das Datum ihrer Demonstration nicht zufällig gewählt. An diesem Samstag vor 75 Jahren fand das versuchte Attentat Stauffenbergs auf Hitler statt. Aus diesem Anlass hält Außenminister Heiko Maas (SPD) eine Rede in Imshausen, nicht weit von Kassel entfernt. Auch die ursprünglich geplante Route der Rechtsradikalen ist eine Provokation: Dass es zu einer Kundgebung vor dem Regierungspräsidium in Kassel kommt, konnte die Stadt gerade noch verhindern.
Nun also die Hafenstraße. Die Anwohner sind genervt: „Wir leben in einer Multikultigesellschaft, sollen sich die Leute mit abfinden, Feierabend!“, sagt eine, die mit ihrem Hund eine Runde dreht. Über die Polizeipräsenz ist sie aber froh: „Ich wohne direkt an der Ecke, wo gleich beide aufeinandertreffen. Ich habe wirklich Angst, dass es knallt!“
Kurz nach drei erreichen die rechten Demonstranten die Scharnhorststraße, wo Tausende Gegendemonstranten warten. Laute Musik, Protestrufe und bunte Fahnen erwarten sie. Für einen kurzen Moment ist die Stimmung angespannt, aber es bleibt friedlich. Wenn später ein Reisebus die Rechtsradikalen zurück zum Bahnhof fahren wird, feiern Tausende Gegendemonstranten in der ganzen Stadt, dass sie in der Mehrheit sind.