Justizministerin Lambrecht : Unsere Demokratie ist auch in der Krise quicklebendig
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Ein Bundespolizist an der niederländischen Grenze bei Nordhorn Bild: dpa
Dass in dieser Ausnahmesituation Sorgen um unseren Rechtsstaat laut werden, kann nicht überraschen. Bei aller Kritik an den Maßnahmen gegen das Coronavirus müssen wir aber aufpassen, dass nicht die Maßstäbe verrutschen. Ein Gastbeitrag.
Die Covid-19-Pandemie stellt unser Gemeinwesen auf eine historische Probe. Gesundheit und Leben der Bürgerinnen und Bürger sind durch die Pandemie in einem Maß bedroht wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Gleichzeitig wachsen die Sorgen vor den sozialen und wirtschaftlichen Folgen der gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen. Und bei vielen wächst auch die Sorge um unseren demokratischen Rechtsstaat.
Kaum ein Jahr nachdem wir voller Freude und Stolz den 70. Geburtstag unseres Grundgesetzes gefeiert haben, können die Bürgerinnen und Bürger mehrere der dort garantierten Grundrechte nicht mehr oder nur sehr begrenzt ausüben. Um die Pandemie einzudämmen, haben Bund und Länder eine Vielzahl von Ge- und Verboten erlassen, die unserem sozialen Leben enge Grenzen ziehen. Wir alle vermissen persönliche Begegnungen mit Familienangehörigen und Freunden. Das gemeinsame Feiern und Trauern, Beten und Demonstrieren ist nur eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich. Kindergärten, Schulen und Universitäten sind verwaist, Geschäfte und Gaststätten geschlossen. Mit Einreisebeschränkungen und Quarantänebestimmungen haben wir weitere schmerzhafte Maßnahmen ergreifen müssen. In einem geeinten, friedlichen Europa mit offenen Grenzen zu leben gehört zu den Grundfesten unserer Werte und Überzeugungen. Diese Situation ist in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel.
Dass in einer solchen Ausnahmesituation Sorgen um unseren demokratischen Rechtsstaat geäußert werden, kann nicht überraschen. Verwunderlich – und vor allem höchst bedenklich – wäre das Gegenteil, also das Ausbleiben von Zweifeln, Mahnungen und Kritik. Denn eine kritische Öffentlichkeit ist eine Grundbedingung gelingender Rechtsstaatlichkeit. Vielfach ist die Mahnung zu hören, die Einschränkung der Freiheitsrechte dürfe kein Normalzustand werden. Verschiedentlich wird auch die Befürchtung laut, der demokratische Diskurs werde dadurch zerstört, dass die Maßnahmen als alternativlos dargestellt würden und keinen Widerspruch duldeten. Auch die zuletzt geäußerte Sorge, wir könnten Zeugen des Abdankens liberaler Rechtsstaatlichkeit werden, darf nicht leichthin als Panikmache abgetan werden.
Bei aller Kritik müssen wir aber aufpassen, dass hier nicht die Maßstäbe verrutschen. Das Bundesverfassungsgericht als oberster Wächter des Grundgesetzes hat ganz aktuell mehrere Eilanträge in dieser Sache abgelehnt und noch einmal klargestellt, dass die Einschränkungen der persönlichen Freiheit gegenüber den Gefahren für Leib und Leben weniger schwer wiegen. Auch muss die Frage erlaubt sein, auf welche Tatsachen sich die genannten Sorgen und Befürchtungen stützen. Bereits die Vielzahl der Beiträge und der öffentliche Diskurs über diese Fragen zeigen, dass unsere Zivilgesellschaft und unsere Demokratie auch in dieser Krisenzeit quicklebendig sind. Selbst bei gründlicher Prüfung lässt sich keine Stimme aus dem politischen Raum finden, die eine Diskussion unterdrücken möchte oder ernsthaft eine dauerhafte Einschränkung der Freiheitsrechte fordert oder gutheißt. Vielmehr werden die Entscheidungen ihrer Tragweite entsprechend in gründlicher Abwägung und voller Transparenz getroffen.
Niemand kann uns die Entscheidung abnehmen
Zum Schutz von Leben und Gesundheit erlaubt das Grundgesetz die Einschränkung von bestimmten Grundrechten. Das Rechtsgut Leben ist, so formuliert es das Bundesverfassungsgericht, „Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung“. Hieraus folgt die Pflicht des Staates, sich aktiv für den Schutz dieses Rechtsguts einzusetzen.
Dies befreit den Staat jedoch nicht von der Aufgabe, gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern für jede seiner Maßnahmen besondere Rechenschaft abzulegen. Er muss für sie in der politischen Öffentlichkeit geradestehen und unterliegt gerichtlicher Kontrolle. Oberste Maxime ist dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Keine staatliche Grundrechtsbeschränkung darf länger andauern oder einschneidender sein als unbedingt erforderlich. Dieser Maßstab wurde bei den jetzt getroffenen Entscheidungen streng beachtet. Und wir kontrollieren laufend, ob die tiefgehenden Freiheitsbeschränkungen noch gerechtfertigt sind oder ob nicht mildere Mittel dem Lebens- und Gesundheitsschutz ebenso zuverlässig dienen.
Niemand kann uns aber die Entscheidung abnehmen, wie die richtige Antwort auf die beispiellosen Herausforderungen der Corona-Pandemie lautet. Sie bleibt eine Frage politischer Risikoabwägung, ein Balanceakt unterschiedlicher Ziele und Einschätzungen. Der bestmögliche Schutz von Leben und Gesundheit erfordert gegenwärtig die bestehenden, weitreichenden Beschränkungen. Denn so gewinnen wir Zeit. Zeit, um die Kapazitäten für eine medizinische Behandlung von Erkrankten aufzustocken. Zeit, um die Infrastruktur für das Testen von Verdachtsfällen auszubauen. Zeit, um Medikamente und Therapien zu erproben und um Forschung zu betreiben, die uns verlässliche Informationen über das neuartige Virus liefert.
In der Diskussion um die getroffenen Maßnahmen dürfen wir eines nicht vergessen: Die Grundrechtseinschränkungen sind kein Selbstzweck. Sie dienen ausschließlich dem Ziel, Leben und Gesundheit so gut wie möglich zu schützen. Hierzu müssen von der Politik in einer beispiellosen Situation weitgehende und schwierigste Entscheidungen getroffen werden. Dieser Verantwortung stellen wir uns tagtäglich.