Gemeinsames Lernen : Verloren in Buchstabenreihen
- -Aktualisiert am
Manche Kinder brauchen mehr Zeit: Max mit seiner Lehrerin in der Vier-Täler-Schule Bild: Sebastian Schulz
Im Sauerland führt eine Mutter eine Kampagne zur Erhaltung von Förderschulen. Sie meint, dass ihr lernbehinderter Sohn dort besser aufgehoben ist - und weiß schon fast 12.000 Unterstützer hinter sich.
Buchstaben! Diese Kombinationen aus Kurven und Linien wollten sich für Max einfach nicht sinnvoll fügen. Max’ Lernblätter und Diktate aus der Endphase seines ersten Grundschuljahrs sind Zeugnisse großer Pein. „Die kleine Hexe“, diktierte seine Lehrerin vor einem Jahr. Und: „Lexi ist eine kleine Hexe.“ Max schrieb „isae“, „isae“ und „ees“. Die Lehrerin diktierte: „Dienstag“ und „Sonntag“. Max schrieb „isad“ und „Sd“.
Die Lehrerin kümmerte sich ganz besonders um Max, ging die Texte separat mit ihm durch, schrieb unter die Diktate Aufmunterungen: „Prima, Max! Lass dich nicht entmutigen. Wortfragmente sind erkennbar.“ Aber Tina Brune, Max’ Mutter, fand, dass es keinen Sinn hat, sich die Sache weiter schönzureden. Ein Jahr der Qual sei genug. Gegen den Willen der Grundschule schickte sie ihren Sohn für acht Wochen zur Probe auf die Vier-Täler-Schule in Plettenberg, eine Schule für Kinder mit Lernbehinderung.
Nach ein paar Wochen kam er nicht mehr mit
Max war kaum auf der Welt, da begannen die Sorgen. Mit zehn Tagen bekam er die Windpocken, später wurden ein Dopaminmangel und eine schwere Form der Epilepsie festgestellt. Max besuchte einen Kindergarten für Sprachbehinderte, weil er lange nicht sprechen wollte. Tina Brune beantragte Förderbedarf für ihren Sohn. Aber dann sprach Max plötzlich – „Feuerwehr“ und „Mama“ waren seine ersten Worte. Mit viereinhalb Jahren. Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass kein Förderbedarf bestehe. Der erste Schultag im Spätsommer 2012 sei ein einziges Drama für ihren seh- und hörbehinderten Jungen gewesen, erinnert sich Tina Brune.
Die vielen Menschen, die vielen Kinder. „Max hat sich an mich geklammert und gebrüllt. Alle haben ihn belächelt.“ Nach ein paar Wochen schon kam Max nicht mehr mit im Unterricht. Immer öfter sagte er zu Hause: „Ich bin so dumm!“ Max ist wie ausgewechselt, seit er auf die Vier-Täler-Schule geht. In seiner Klasse sind nur acht weitere Kinder. Manchmal unterrichten Lehrer sogar in Doppelbesetzung, um ihre Schüler maximal zu fördern. Max hat sein eigenes Tempo. Alle drei Monate lernt er zwei Buchstaben. Damit er die neuen Buchstaben fühlen kann, schneidet er sie aus Sandpapier aus.
„Endlich Erfolgserlebnisse“
Oder er lernt mit Eselsbrücken: Das H sieht aus wie eine Himmelbrücke. Das B verbindet er mit dem Geschmack von Bananen oder Basilikum. „Mama, ich lerne hier, es dauert nur“, sagte Max schon nach kurzer Zeit. Nun ist Max’ erstes Schuljahr an der Förderschule beinahe vorbei. Der achteinhalb Jahre alte Junge beherrscht nun vierzehn Buchstaben und kann im Zahlenbereich bis 20 sicher rechnen. „Für Max ist die Vier-Täler-Schule die Rettung. Er hat endlich Erfolgserlebnisse“, sagt seine Mutter.
Doch Tina Brune hat Angst, dass ihr Junge wieder zurück muss auf die Regelschule. Im August tritt in Nordrhein-Westfalen ein novelliertes Schulgesetz in Kraft. Es sieht vor, dass Schüler mit und ohne Behinderung in der Regel in allgemeinen Schulen unterrichtet werden. Nach Einschätzung der rot-grünen Landesregierung kann die Inklusionsquote bis 2017 von derzeit 25 auf 50 Prozent gesteigert werden. Tatsächlich befürworten viele Eltern von Kindern mit Behinderung das gemeinsame Lernen.
Doch es gibt auch Eltern, die gegen zu viel Inklusion sind, weil sie fürchten, dass ihre Kinder an Regelschulen untergehen. „Max soll nicht wieder als Regelfall behandelt und täglich beschämt werden, weil er nicht mitkommt und an seinen Fehlern gemessen wird“, sagt Tina Brune. „Das ist keine Inklusion, das ist Exklusion, das macht Kinderseelen kaputt.“