Inklusion : Der Zufall entscheidet
- -Aktualisiert am
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), derzeit Präsident der Kultusministerkonferenz, will Vorreiter bei der Inklusion sein und schafft die sonderpädagogischen Gutachten ab.
Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), derzeit Präsident der Kultusministerkonferenz, will Vorreiter bei der Inklusion sein. In einem Handstreich hat er die sonderpädagogischen Gutachten für Schüler mit Lernschwierigkeiten, Sprach- und Verhaltensstörungen abgeschafft. Sonderpädagogen und Eltern protestieren dagegen, im Schulausschuss gab es parteiübergreifend Kritik an diesem Vorhaben, doch es bleibt dabei.
Die sonderpädagogischen Gutachten sollen nach Angabe der Schulbehörde durch sogenannte Förderpläne, die für jedes Kind entwickelt werden, überflüssig werden. „Damit wird erstmals gewährleistet, dass jedes Kind individuell nach klaren und überprüfbaren Kriterien gefördert wird“, teilt die Schulbehörde mit. Denn der Schulsenator hat Zweifel an der Zuverlässigkeit der sonderpädagogischen Gutachten. Es sei doch auffällig, dass in Berlin fünfzehnmal und in Hamburg zehnmal so viele Kinder als sonderpädagogisch sprachförderbedürftig eingeschätzt werden wie in Bremen, obwohl die Schülerschaft sehr ähnlich sei. Weil die Gutachten dem Senator nicht gutachterlich genug sind, schafft er sie ab. Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, sie durch zwei Gutachter absichern zu lassen. Doch das kostet Geld, denn so ein sonderpädagogisches Gutachten ist für einen Sonderpädagogen mit etwa einer Woche Arbeit verbunden. Er spricht mit dem Kind, mit den Eltern, berichtet dann aufwendig die Lebensgeschichte des Kindes auf etwa zehn bis zwölf Schreibmaschinenseiten, wobei eine defizitorientierte Begutachtung nicht erwünscht ist.
Künftig, so befürchten Eltern und Sonderpädagogen in Hamburg, ist es dem Zufall überlassen, ob Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an ihrer Schule einem Sonderpädagogen begegnen, der ihre spezifische Behinderung erkennt und die richtigen Behandlungen oder Rehabilitationen einleitet. Der Senator will, dass die sogenannten Förderpläne „aus dem Unterricht erwachsen“. Wie das bei nicht sonderpädagogisch geschulten Lehrern gelingen soll, ist unklar, denn es ist für einen Lehrer in der Praxis schwer zu unterscheiden, ob ein Kind wenig begabt, faul oder verhaltensauffällig ist. Statt eines Förderschulplatzes an einer dafür geeigneten Schule landet ein lernbehindertes Kind in Hamburg jetzt an einer Regelschule, die eine Pauschale, eine sogenannte systemische Zuweisung für die Förderung, bekommt, im schlechtesten Falle aber keinen Sonderpädagogen hat.
Die 19 Förderschulen, sechs Sprachheilschulen und 14 regionale Beratungs- und Unterstützungsstellen sollen zu 13 Bildungs- und Beratungszentren zusammengeschlossen werden. Förderschulen nehmen also schon jetzt keine Schüler mehr an, die Eltern werden gezwungen, eine Regelschule zu wählen, an der die Förderung möglicherweise auf der Strecke bleibt.
Vor allem lernbehinderte Schüler benötigen einen ganz anderen Unterricht mit speziellen Methoden, sagt die erste Vorsitzende des Hamburger Landesverbandes der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik, Kristine Leites. Solche Schüler erst auf der weiterführenden Schule zu entdecken sei für die Entwicklung der Kinder katastrophal. Sie fordert eine Reihenuntersuchung vor der Einschulung mit einer spezifischen Einzeldiagnostik, falls nötig. Weil die Lehrerausbildung verkürzt und entqualifiziert werde, seien die meisten Regelschullehrer völlig überfordert. Eigentlich müsste an jeder Inklusionsschule ein Sonderpädagoge in leitender Funktion als Förderkoordinator eingesetzt werden, meint Frau Leites, aber sie weiß, dass die Sonderpädagogen überall fehlen. Sprachbehinderte Kinder könnten völlig geheilt werden, aber dazu sind fachliche Expertise, spezielle Methoden, Zeit und Kontinuität in der Förderung nötig. All das ist im Inklusionssystem mit seiner systemischen Pauschale pro Schule nicht mehr möglich.