https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/im-duesseldorfer-maghreb-viertel-gab-es-eine-grossrazzia-14021315.html

Großrazzia : Auf Spurensuche im Düsseldorfer Maghreb-Viertel

  • -Aktualisiert am

Zwangspause im Café: Bei der Razzia in der Nacht auf Sonntag setzten Polizisten verdächtige junge Männer im Düsseldorfer Maghreb-Viertel fest. Bild: ddp Images

Eigentlich gelten die Einwanderer aus Algerien und Marokko in Düsseldorf als gut integriert. Nun leiden auch sie unter jungen Straftätern, die neu aus ihren Heimatländern kommen. Deswegen kommen die Großrazzien der Polizei bei den Alteingesessenen gut an.

          6 Min.

          Die Ellerstraße sieht auf den ersten Blick nicht anders aus als viele andere Straßen in der Düsseldorfer Innenstadt. Überwiegend in der Nachkriegszeit hochgezogene Stadthäuser bilden eine lange Schlucht; links und rechts recken winterkahle Bäume ihre Äste zwischen endlosen Reihen parkender Autos aus kleinen Grüninseln in den winterblauen Himmel. In anderen deutschen Städten ist es in so unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof deutlich trostloser. Die Gegend in und um die Ellerstraße ist ein buntes Viertel mit nordafrikanischen Bars und Cafés, mit Buch- und Obstläden, Frisörsalons oder der Patisserie „Tanger“, die in ganz Düsseldorf einen guten Ruf genießt.

          Reiner Burger
          Politischer Korrespondent in Nordrhein-Westfalen.

          Aber nun ist Klein-Marokko, das sich über einige Straßen in den Stadtteilen Oberbilk und Friedrichstadt erstreckt, als Problemgegend in den Fokus der Medien in ganz Deutschland geraten. Es begann damit, dass kurz nach den Exzessen mutmaßlich aus Nordafrika stammender junger Männer in der Silvesternacht in Köln das interne Projekt „Casablanca“ der Düsseldorfer Polizei bekanntwurde. Im Sommer 2014 begannen die Ermittler, junge Tatverdächtige aus Marokko, Algerien oder Tunesien systematisch in den Blick zu nehmen. Die Beamten verknüpften alle verfügbaren Informationen zu Gepäckdiebstählen und Rauschgiftdelikten im Hauptbahnhof oder zu Antanzdiebstählen in der Düsseldorfer Altstadt. Durch die Datensammlung erkannten die Ermittler viele neue Zusammenhänge: Schritt für Schritt stießen sie auf eine große, wohlorganisierte Bande von insgesamt 2244 jungen Männern aus verschiedenen Maghreb-Staaten. Beinahe 4400 Strafdelikte werden ihnen zugeschrieben. Sie gelten als weitgehend „polizeiresistent“. Im „Casablanca“-Bericht heißt es: „Eine zwischenzeitliche Festnahme nach Diebstahlsdelikten bewirkt offenbar kein Umdenken.“ Nach einer Razzia vor einem Jahr stellte die Polizei fest, dass sich in Bahnhofsnähe „ein soziales, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum“ gebildet habe, das nordafrikanischen Tatverdächtigen als „Rückzugsraum“ diene.

          Am Samstagabend setzte die Polizei dann ein zweites demonstratives Zeichen in der Causa „Casablanca“: 300 Beamte durchsuchten 18 Cafés, Shisha-Bars, Spielhöllen und Restaurants. Das Maghreb-Viertel war praktisch abgeriegelt. Lokale wurden durchsucht, die Personalien von Gästen und Angestellten aufgenommen. Wer sich nicht ausweisen konnte, wurde in ein eigens errichtetes Vernehmungszelt mitgenommen. Sogar einen großen Lichtmastwagen hatten die Einsatzkräfte dabei, um die Szenerie gleißend hell zu erleuchten. Erst gegen Mitternacht war der Einsatz beendet, bei dem 294 Personen überprüft und 40 Männer vorläufig festgenommen wurden. 38 von ihnen halten sich nach ersten Erkenntnissen illegal in Deutschland auf, einer der Festgenommenen war schon zur Abschiebung ausgeschrieben. Sechs Mobiltelefone konnten die Beamten sicherstellen. Sie stammen aus Straftaten, so viel steht fest. Doch können die Taten keiner konkreten Person zugeordnet werden. Hinzu kamen sieben Strafanzeigen wegen Drogendelikten, Diebstahl, Betrug und Verstoß gegen das Waffengesetz.

          Düsseldorf : 40 vorläufige Festnahmen bei Razzia in „Maghreb-Viertel“

          Sozialarbeiter kritisiert ethnische Vorverurteilung

          Alles in allem ist das ein doch recht mageres Ergebnis für eine beinahe sechs Stunden währende Großrazzia. Vielleicht auch deshalb weist Einsatzleiter Frank Kubicki noch einmal auf den größeren Rahmen von „Casablanca“ hin. Das Projekt habe der Polizei viele Einblicke in die Strukturen der Verdächtigen verschafft. Man wisse nun einiges über ihre Gewohnheiten, Aufenthaltsorte und Unterkünfte. „So haben wir die Möglichkeit, mit regelmäßigen Kontrollaktionen, aber auch mit großen Razzien Orte aufzuklären, an denen solche Taten verabredet werden, noch bevor sie geschehen“, sagt Kubicki. Anlass für die Razzia seien nicht die Vorkommnisse in der Silvesternacht in Köln gewesen. „Gleichwohl rechnen wir mit Erkenntnissen, die die Ermittlungen vorantreiben könnten.“

          Anwohner und Geschäftsleute des Düsseldorfer Maghreb-Viertels begrüßen Polizeiaktionen wie die Großrazzia am Samstag grundsätzlich. Alteingesessene Ladenbesitzer sind auf die jungen Landsleute, die seit drei bis vier Jahren nach Deutschland kommen, nicht gut zu sprechen. Viele sagen Sätze wie: „Abschieben, sofort abschieben.“ Sogar eine Unterschriftenaktion haben sie im Maghreb-Viertel schon gestartet. Denn es sind regelmäßig die alteingesessenen Migranten aus dem Maghreb, die zu den ersten Opfern der Problem-Migranten werden. Kürzlich bewarfen junge nordafrikanische Migranten das Café eines Marokkaners mit Ziegelsteinen, weil er sie hatte vertreiben wollen.

          Bild: F.A.Z.

          Aber es gibt auch kritische Stimmen. Samy Charchira, der als Sozialarbeiter in der Gegend unterwegs ist, im Landesvorstand des Paritätischen Wohlfahrtsverbands NRW sitzt und auch für das Salafismus-Präventionsprojekt „Wegweiser“ oder die Deutsche Islamkonferenz tätig ist, sieht ein ganzes Viertel vorverurteilt. Während die Razzia noch lief, machte er am Samstag seinem Unmut auf Facebook Luft: „Hunderte von Polizeibeamten kontrollieren unter aufgestelltem Flutlicht unbescholtene Bürger unserer Stadt ... frei nach dem Aussehen.“ Statt die Probleme mit den im Viertel gestrandeten Jugendlichen zu lösen, werde die gesamte Gemeinde unter Generalverdacht gestellt und stigmatisiert. Die gestrandeten Jugendlichen seien der Düsseldorfer Polizei seit Jahren bekannt. Auch durch die Razzia werde das Problem nicht gelöst. „Es kommt eher einem blinden Aktionismus nahe und ist offensichtlich der gestiegenen medialen Berichterstattung geschuldet.“

          Weg für Illegale führt automatisch nach Nordrhein-Westfalen

          Charchira, der mit 15 Jahren aus Marokko nach Deutschland kam, gibt in diesen Tagen unermüdlich Interviews. Ausdauernd weist er darauf hin, dass es in Nordrhein-Westfalen eine gut integrierte nordafrikanische Gemeinde gibt – mit hohen Einbürgerungsquoten und gutem Bildungsstand. Speziell in der marokkanischen Community gibt es viele binationale Partnerschaften, was als Indiz für Offenheit und gelebte Toleranz gilt. Auch das Düsseldorf Maghreb-Viertel ist keine Parallelwelt, keine geschlossene Gesellschaft. Im Vergleich mit manchen Gegenden im Ruhrgebiet ist das Quartier noch weitgehend gemischt. „Ich bin in Oberbilk groß geworden und empfand das immer als sicher. Wir hatten wunderbare Nachbarn, haben auf der Straße gespielt. Das Miteinander war harmonisch“, erinnert sich Saida Ouanssaidi.

          Kam die erste Einwanderergeneration noch, um im Bergbau oder in der Automobilindustrie zu arbeiten, zogen seit den neunziger Jahren verstärkt marokkanische Studenten und Akademiker nach Deutschland. Viele Marokkaner schaffen den Aufstieg – so wie Saida Ouanssaidi, die in Deutschland studierte, fließend Arabisch, Französisch und Deutsch spricht und heute bei der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Düsseldorf arbeitet.

          In jüngster Zeit zieht es eine neue Generation Nordafrikaner weg aus der Heimat: junge Männer ohne Ausbildung, die schnell ihr Glück in Europa machen wollen. Manche schlagen sich schon seit Jahren als „Illegale“ in Europa durch. Wen es nach Deutschland zieht, der kommt beinahe zwangsläufig in Nordrhein-Westfalen an, weil es dort die größte nordafrikanische Community in Deutschland gibt. Und in Nordrhein-Westfalen führt der Weg dann beinahe zwangsläufig nach Köln und vor allem Düsseldorf. Dort haben die jungen Männer zwar keine Verwandten. Aber in Gegenden wie dem Düsseldorfer Maghreb-Viertel treffen sie immerhin auf Leute, die ihre Sprache sprechen – und auf andere „gestrandete Jugendliche“, die schnell gemeinsam in einem Vergeblichkeitskreislauf gefangen sind. „Sie haben keine Chance, als Asylbewerber anerkannt zu werden, sprechen kein Deutsch und wissen nicht, wohin“, sagt Saida Ouanssaidi, die als Migrationsberaterin bei der Düsseldorfer Awo tätig ist. Manche der Jugendlichen geraten schnell in die Fänge von Banden, die ihr Personal über soziale Netze im Internet und sogar schon in Flüchtlingsheimen anwerben wollen. Laut Feststellungen des „Casablanca“-Projekts gelten in Düsseldorf zwei 28 und 33 Jahre alte Marokkaner als Drahtzieher, die selbst als Asylbewerber in Deutschland sind.

          Schon 2014 gab es Warnungen vor nordafrikanischen „Desperados“

          In den vergangenen Monaten nahm die Zahl junger Flüchtlinge aus Nordafrika in Deutschland rasant zu. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums kamen allein im Dezember 2296 Asylsuchende aus Algerien und 1896 aus Marokko nach Deutschland. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Personen aus dem Maghreb, die vorgeben, Syrer zu sein, um sich so die Chance auf Asyl zu erschleichen. Führte der Migrationsweg aus Nordafrika bisher von Libyen über das Mittelmeer nach Europa, berichten marokkanische Medien davon, dass manche Landsleute nun visumfrei in die Türkei fliegen, um sich dort unter syrische Flüchtlinge zu mischen und auf der Balkanroute nach Deutschland zu gelangen. Oftmals würden von den Familien gezielt die stärksten Söhne mit dem Auftrag geschickt, so viel Geld wie möglich nach Hause zu senden.

          Doch Saida Ouanssaidi hat festgestellt, dass das kein generelles Muster ist. Die Sozialarbeiterin mit marokkanischen Wurzeln ist regelmäßig auch am Flughafen Düsseldorf tätig, wo Flüchtlingszüge ankommen. Neulich traf sie dort einen Marokkaner, der einen Handyladen in Marokko betrieben hatte. „Der hat sein Geschäft aufgegeben, alles verkauft, sich auf den Weg gemacht. Er wollte mehr erreichen, war nicht zufrieden mit dem, was er hatte. Das ist meist der Wunsch der jungen Erwachsenen.“

          Der FDP-Landtagsabgeordnete Joachim Stamp ist überzeugt, dass die nordrhein-westfälische Landesregierung das Problem mit straffälligen jungen Migranten aus Nordafrika lange sträflich vernachlässigt hat. „Bereits 2014 wurde mir aus verschiedenen Flüchtlingseinrichtungen berichtet, dass es Probleme speziell mit alleinreisenden Männern aus Nordafrika geben würde. Es waren zwar überall Einzelfälle, aber immer aus der gleichen Migrantengruppe. Mir wurde geschildert, dass es sich dabei oft um Männer handelt, die von Kindheit an nur das Gesetz der Straße kennen und die sich jetzt nach Europa durchgeschlagen haben“, sagt der Flüchtlingspolitiker der FDP-Landtagsfraktion. Als sich Berichte über diese „Desperados“ gehäuft hätten, habe die Opposition schon im Herbst 2014 die Landesregierung öffentlich davor gewarnt, das Problem alleinreisender Männer laufen zu lassen. Tatsächlich warnte der CDU-Abgeordnete Werner Lohn schon im Oktober 2014: „Wenn man nicht ganz gezielt die Wahrheit anspricht, könnte die Stimmung schnell auch umkippen.“ Die Landesregierung habe damals zwar „Expertenberatung und eine konzeptionelle Grundlage“ zugesagt, erinnert sich FDP-Politiker Stamp. „Aber auch das ist bis heute ausgeblieben.“

          Weitere Themen

          Boris Johnsons Wahrheit

          Auftritt vor U-Ausschuss : Boris Johnsons Wahrheit

          Der frühere britische Premierminister rechtfertigt sich vor einem Ausschuss des Unterhauses für Aussagen über eine Party im Corona-Lockdown. Die Vorsitzende des Gremiums macht ihm eine harte Ansage.

          Topmeldungen

          Porträt von Ludwig van Beethoven aus dem Jahre 1820

          Brisante Gen-Analyse : Beethoven war gar kein Beethoven

          Erstmals haben Forscher das Genom des Komponisten Ludwig van Beethoven sequenziert. Die Befunde sind brisant, weil sie Aufschluss über die Todesursache geben. Auch aus anderen Gründen müssen Biographien nun wohl umgeschrieben werden.
          Der frühere britische Premierminister Boris Johnson bestreitet bei seiner Anhörung am Mittwoch, das Parlament belogen zu haben.

          Auftritt vor U-Ausschuss : Boris Johnsons Wahrheit

          Der frühere britische Premierminister rechtfertigt sich vor einem Ausschuss des Unterhauses für Aussagen über eine Party im Corona-Lockdown. Die Vorsitzende des Gremiums macht ihm eine harte Ansage.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.