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Debatte bei der Union : Wenn sich Abgeordnete empören

  • -Aktualisiert am

Bild: Ivan Steiger

Bei den Themen Zuwanderung, Islam und Maut ist die CDU/CSU-Fraktion nicht geschlossen. Ihr Vorsitzender Volker Kauder hat derzeit einen politischen Spagat zu meistern. Seinem SPD-Kollegen Oppermann geht es auch nicht besser.

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          Kürzlich hat es in der CDU/CSU-Fraktion eine tatsächlich spontane, von ihrer Führung nicht geplante Debatte gegeben. Der Anlass: Der Vorstoß des CDU-Generalsekretärs Peter Tauber, es müsse über die Zuwanderung gesprochen werden und es bedürfe eines Einwanderungsgesetzes. Wolfgang Bosbach, der Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages, fing an. Ob er etwas versäumt habe, rief er ironisch. Genügend und detaillierte Gesetzesregelungen gebe es, führte er aus. Es bedürfe mithin keiner weiteren Maßnahmen. Tauber sah sich verständlicherweise zu einer Verteidigungsrede veranlasst. Das wiederum brachte Ole Schröder, den Parlamentarischen Staatssekretär des Innenministeriums, auf den Plan, der – ähnlich wie Tage davor sein Minister Thomas de Maizière – erläuterte, was alles und wie es geregelt sei.

          Der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder sah das auch so und drängte zur Eile. Weil es keine Gesetzesvorlage gebe, rief er, bedürfe es in der Fraktion, zumal diese ja für Gesetzesarbeit zuständig sei, auch keiner Debatte. Jens Spahn, Gesundheitspolitiker und CDU-Präsidiumsmitglied, sah das wiederum anders und verteidigte Tauber. Auch wenn es Regelungen gebe, müsse – der Klarheit und des öffentlichen Bewusstseins wegen – über die Zuwanderungspolitik diskutiert werden. Und außerdem: Das Plenum der Fraktion sei der Ort der politischen Aussprache. Das entsprechende, auch von der Führung immer wieder bekundete Bekenntnis müsse auch erfüllt werden. Es schien, als sei ein Ventil geöffnet worden. Heftig wurde in der Fraktion debattiert. Selbst die Akteure wunderten sich darüber. Schnell vergessen wird der Vorgang nicht.

          Wer lange redet, macht sich unbeliebt

          Im dichtgedrängten Arbeitsalltag des Parlaments und seiner Fraktionen kommt so etwas selten vor. Die Tagesordnung des Bundestages bestimmt Themen und Ablauf der Fraktionssitzungen: Ergebnisorientiert, zielorientiert sind sie. Anscheinend folgenlose Debatten sind nicht vorgesehen. Allenfalls die Tagesordnungspunkte „Bericht des Vorsitzenden“ und „Verschiedenes“ bieten Raum für eine freie Aussprache. Doch wer schon sucht öffentlich den Konflikt mit dem Vorsitzenden oder gar der Bundeskanzlerin? Zudem: Die Zeit ist knapp. Die meisten Abgeordneten haben mit ihren Arbeiten an den Details von Gesetzesvorhaben genügend zu tun – zur Vorbereitung von Ausschusssitzungen und fraktionsinternen Arbeitsgruppen. Die sind von Bedeutung, weil hier die informellen Hierarchien personalpolitischer Bedeutung entstehen oder verteidigt werden müssen. Doch sind in den Gremien zugleich Leute unbeliebt, die sich mit langen Reden in den Vordergrund drängen wollen. Dem Verdacht sind sie ausgesetzt, in der Realität unterbeschäftigt zu sein.

          Das Arbeitsprogramm der großen Koalition war bislang prall gefüllt. Stichworte: Mindestlohn, Rente ab 63, Mütterrente, Frauenquote. Vor allem die Unionsfraktion hatte – die im Koalitionsvertrag allerdings angelegten – Zugeständnisse ihrer Parteiführung an die SPD zu akzeptieren. Volker Kauder, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, hatte einen politischen Spagat zu bewältigen: einerseits die Geschlossenheit der Fraktion zu organisieren, andererseits dem Willen der – verfassungsrechtlich an Aufträge nicht gebundenen – Abgeordneten zu entsprechen, ihre Bedenken gegen manche Absprachen der Koalitionsspitze artikulieren zu können.

          Ein Wettbewerb um höchstmögliche Geschlossenheit

          Dass auf dem CDU-Parteitag im Dezember gegen den ursprünglichen Willen Kauders und sogar der Parteivorsitzenden Angela Merkel beschlossen wurde, die „kalte Progression“ im Steuerrecht solle abgebaut werden, könnte nachwirken. Mittelstand, Sozialausschüsse und Junge Union hatten sich zusammengetan, was die Widerspenstigen in der Bundestagsfraktion bestärken mag: Es geht doch, wenn man nur will. Zugleich aber sind offene Auseinandersetzungen in den Plenarsitzungen der Fraktion zu vermeiden – nicht nur wegen bleibender Schäden solcher Auseinandersetzungen, sondern auch und nicht zuletzt wegen der öffentlichen Wirkung. Allenfalls im engeren Fraktionsvorstand sind Debatten zugelassen.

          Doch stets hat das Ergebnis schon im vorhinein festzustehen: Zustimmung zu den Absprachen mit der SPD. Auch die Zahl der Abweichler ist klein zu halten – jener Abgeordneten also, die aus Gewissensgründen bei der Abstimmung im Bundestag gegen die Koalitionsvereinbarungen votieren wollen. In den Zeiten der besonders großen großen Koalition ist das für Kauder und seinen SPD-Kollegen Thomas Oppermann ein schwieriges Geschäft. Bei der 404:127-Mehrheit der Koalitionsfraktionen gegen die Opposition kommt es auf den einzelnen Abgeordneten vermeintlich nicht an. Doch gibt es zwischen den beiden Koalitionsfraktionen informell den Wettbewerb über höchstmögliche Geschlossenheit. Wenn die Fraktionsführungen einmal nachlassen, können Schleusen geöffnet werden, die hernach nicht mehr zu schließen sind – mit nicht absehbaren Folgen für die Stabilität des Regierungsbündnisses. Schon in der vergangenen Wahlperiode mit ihrer schwarz-gelben Koalition war Kauder in den Auseinandersetzungen über die Euro-Rettungspolitik vorgeworfen worden, der kleinen Gruppe der abweichenden Minderheit zu viel Möglichkeiten der Selbstdarstellung gegeben und nicht hart genug durchgegriffen zu haben.

          „Rechts“ von Merkel und „links“ von Gabriel

          Wie schwer das sein kann, zeigte sich im vergangenen Jahr in den internen Auseinandersetzungen der CDU/CSU-Fraktion über die Einführung der „Autobahnmaut für Ausländer“. Nachdem Überlegungen von Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) bekanntgeworden waren, allgemeine Straßenbenutzungsgebühren auch für den grenznahen Verkehr einzuführen, drohte die nordrhein-westfälische Landesgruppe mit einem Veto. Sogar gegen den Widerstand von Bundeskanzlerin Angela Merkel verabschiedete die Landesgruppe eine solche Entschließung. Sie setzte sich durch.

          Zwar war das kein Widerspruch zu Koalitionsvereinbarungen. Doch war es das erste Mal, dass Teile der Unionsfraktion Zähne zeigten. Sie ließen sich nicht besänftigen und auch nicht zwingen. Sie wollten beweisen, dass nicht die Regierung oder ihre je zuständigen Minister die Einzelheiten der Gesetzgebung bestimmen, sondern die Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Schon wurde eine Konsequenz gezogen, die den Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative berührt: Gesetzentwürfe der Bundesregierung werden mit den Koalitionsfraktionen abgestimmt, ehe sie als Regierungsentwürfe dem Parlament zugeleitet werden.

          Dass – nach gängigen Maßstäben politischer Einordnung – die Unionsfraktion „rechts“ von Angela Merkel und die SPD-Fraktion „links“ vom Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) steht, zeigt sich immer deutlicher. Merkel erfuhr es öffentlich im Bundestag an der kritischen Reaktion der Unionsmehrheit auf ihr Christian-Wulff-Zitat, der Islam gehöre zu Deutschland. Gabriel erfährt es am Widerstand seiner Fraktion gegen die Vorratsdatenspeicherung. Kauder und Oppermann haben das zu beachten. Im Bundestag widersprechen sie einander, um der Stimmung ihrer Fraktionsmitglieder nachzukommen, es sei Eigenständigkeit der Koalitionspartner zu beweisen. Zugleich haben sie intern für Disziplin zu sorgen. Dass sich hin und wieder Zorn und Empörung Bahn brechen, haben sie zu erdulden.

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