Grenzöffnung vor 25 Jahren : Es war ein heißer Sommer
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In Sopron wird die Weltgeschichte gemacht: „Am 19. August öffnete ein unterdrücktes Volk das Tor seines Gefängnisses, um einem anderen unterjochten Volk zur Freiheit zu verhelfen.“ Bild: LAIF
Am 19. August vor 25 Jahren fand bei Sopron das Paneuropäische Picknick statt. Ungarn öffnete damals seine Grenze zu Österreich, anschließend gab es kein Halten mehr für die DDR-Bürger. Der erste Stein aus der Berliner Mauer war damit herausgebrochen.
Beinahe andächtig stehen Anja und Axel Hering im Juli vor der Zugliget-Kirche im 12. Bezirk, einem Villenviertel Budapests. Sie machen Urlaub am Balaton und sind für einen Tag in die ungarische Hauptstadt gekommen. Axel Hering hat diesen Besuch lange geplant, er hat Dokumente und Zeitungsausschnitte mitgebracht, aber jetzt sind die Erinnerungen sofort wieder da: Dort standen die Zelte, hier die Rezeption, von da drüben guckte die Stasi. Zum ersten Mal sind beide zurück an dem Ort, an dem im Sommer vor 25 Jahren der Westen zum Greifen nah war.
Die großen Ferien in der DDR haben 1989 am 1. Juli, einem Samstag, begonnen. Es ist ein heißer Sommer; in den acht schulfreien Wochen brechen wieder Zehntausende DDR-Bürger auch nach Ungarn auf. Die meisten zuckeln in Trabant und Lada über Land oder fahren mit dem Zug, um für zwei, drei Wochen südliche Wärme und ein wenig westliches Flair zu genießen. In Ungarn aber gibt es diesmal nicht nur Pfirsiche, Melonen und Pepsi-Cola, sondern auch Gerüchte über Fluchtmöglichkeiten nach Österreich.
Dass Ungarn seine Sperranlagen abbaut, hatten viele DDR-Bürger im Frühjahr 1989 staunend im Westfernsehen gesehen. Der Zaun war marode, die Erneuerung zu teuer, also demontierten Soldaten mit Bolzenschneidern Stachel- und Signaldrähte. Am 27. Juni nehmen auch die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, das Gerät zur Hand und durchschneiden bei Siegendorf zwischen Eisenstadt (Österreich) und Sopron (Ungarn) fröhlich den Zaun. Die Bilder gehen um die Welt. In der DDR beantragen nun noch mehr Leute Visa für Ungarn.
Die Öffnung des Zauns an dieser Stelle ist jedoch nur symbolisch. Tatsächlich hat Ungarn mit dem Abbau der knapp 300 Kilometer langen Sperranlagen zuerst im Süden, an der Grenze zu Jugoslawien, begonnen. Im Nordwesten stehen sie nach wie vor. Auch deshalb wundert sich Stefan Biricz, als sich am 9. Juli drei DDR-Bürger am Gendarmerieposten im österreichischen St. Margarethen melden und berichten, aus Ungarn geflohen zu sein, und um Asyl bitten. „Das waren die Allerersten“, sagt Biricz, damals Bezirksgendarmerie-Kommandant für den Bereich Eisenstadt und zuständig für das „Flüchtlingswesen“.
Biricz läuft gelegentlich Patrouille an der Grenze; Flüchtlinge aber wurden hier zum letzten Mal 1956 gesehen, als sich 200.000 meist deutschsprachige Ungarn während des Aufstands in ihrem Land in den Westen absetzten. Dass sich in Ungarn etwas verändert, weiß Biricz. Welche Folgen das für den Ostblock und insbesondere die DDR haben wird, ahnt er erst, als im Juli 1989 täglich DDR-Bürger vor seinem Posten stehen: am 11. Juli ein Ehepaar mit Kind, am 12. Juli ein Mann, zwei Frauen, ein Kind, am 13. Juli zwei Männer und zwei Frauen, am 19. Juli ein Ehepaar mit zwei Kindern. Sie alle sind durch den Stacheldraht gekrochen, über Wiesen und durch Wald nach Österreich gerannt.
Die meisten von ihnen landen in Mörbisch, einer Gemeinde auf halbem Berg direkt an der Grenze. Unterhalb liegt der Neusiedler See, oberhalb wächst Wein in bester Südlage. Stefan Biricz hat alle Flucht- und Vorfälle des Sommers 1989 säuberlich notiert. Einige der Flüchtlinge werden von Verwandten aus Westdeutschland abgeholt, die anderen lässt er nach Aufnahme der Personalien mit Taxis oder Kleinbussen nach Wien zur westdeutschen Botschaft fahren, von wo sie in die Bundesrepublik weiterreisen; je Transfer zahlt die Botschaft 2000 Schilling in bar.