Gaucks Rede im Wortlaut : „Ängste vermindern unseren Mut“
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Gauck wird nach seiner Rede beglückwünscht Bild: Lüdecke, Matthias
Nach seiner Vereidigung als elfter Bundespräsident hat Joachim Gauck am Freitag vor Mitgliedern des Bundestags und des Bundesrats eine erste Grundsatzrede gehalten. FAZ.NET dokumentiert die Rede im Wortlaut.
„Herr Präsident des Deutschen Bundestages, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe verehrte Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem In- und Ausland. Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank für die unnachahmliche Führung dieser Sitzung und für das leuchtende Beispiel ... in unser Land hinein, dass Politik Freude machen kann. Herr Bundesratspräsident, Sie haben Worte gefunden, die bei mir und sicher auch beim Bundespräsident Wulff ein tiefes und nachhaltiges Echo hinterlassen haben, ich danke Ihnen.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, ja, wie soll es denn nun aussehen dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen: unser Land? Geht die Vereinzelung in diesem Land weiter? Geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf? Verschlingt uns die Globalisierung? Werden Menschen sich als Verlierer fühlen, wenn sie an den Rand der Gesellschaft geraten? Schaffen ethnische oder religiöse Minderheiten in gewollter oder beklagter Isolation Gegenkulturen? Hat die europäische Idee Bestand? Droht im Nahen Osten ein neuer Krieg?
Kann ein verbrecherischer Fanatismus in Deutschland wie in anderen Teilen der Welt weiter friedliche Menschen bedrohen, einschüchtern und ermorden? Jeder Tag, jede Begegnung mit den Medien bringt eine Fülle neuer Ängste hervor und Sorgen. Manche ersinnen dann Fluchtwege, misstrauen der Zukunft, fürchten die Gegenwart. Viele fragen sich, was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit. Mein Lebensthema Freiheit ist dann für sie keine Verheißung, kein Versprechen, sondern nur Verunsicherung.
Ich verstehe diese Reaktion. Doch ich will ihr keinen Vorschub leisten. Ängste, so hab ich es gelernt in einem langen Leben, Ängste vermindern unsern Mut wie unser Selbstvertrauen - und manchmal so entscheidend, dass wir beides ganz und gar verlieren können, bis wir gar Feigheit für Tugend halten und Flucht für eine legitime Haltung im politischen Raum. Stattdessen, wenn ich das nicht will, will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren.
Ich wünsche mir also eine lebendige Erinnerung auch an das, dass in unserem Land nach all den Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur, nach den Greueln des Krieges gelungen ist. In Deutschlands Westen trug es, dieses Gelungene als erstes den Namen Wirtschaftswunder. Deutschland kam wieder auf die Beine. Die Vertriebenen, gar die Ausgebombten erhielten Wohnraum, nach Jahren der Entbehrung nahm der Durchschnittsbürger teil am wachsenden Wohlstand. Freilich, nicht jeder im selben Maße. Allerdings sind für mich die Autos, und die Kühlschränke und all der neue Glanz einer neuen Prosperität nicht das Wunderbare jenes Jahrzehnts. Ich empfinde mein Land, vor allem als ein Land des Demokratiewunders.
Anders als die Alliierten es damals nach dem Kriege fürchteten, wurde der Revanchismus im Nachkriegs-Deutschland nie mehrheitsfähig. Es gab schon ein Nachwirken nationalsozialistischer Gedanken, aber daraus wurde keine wirklich gestaltende Kraft. Es entstand stattdessen eine stabile demokratische Ordnung. Deutschland-West wurde Teil der freien westlichen Welt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in dieser Zeit blieb allerdings defizitär. Die Verdrängung eigener Schuld, die fehlende Empathie mit den Opfern des Nazi-Regimes prägte den damaligen Zeitgeist. Erst die 68er-Generation hat das nachhaltig geändert.