Fremde Federn:Thomas Oppermann : Die SPD darf die Macht nicht verachten
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Zwei Machtbewusste in der SPD: Vor einem Bild Helmut Schmidts würdigt Gerhard Schröder auf dem Parteitag 2015 in Berlin den verstorbenen früheren Bundeskanzler Bild: dpa
Die SPD befindet sich in der schwersten Krise seit 1945. Der frühere Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann erinnert seine Partei an das Godesberger Programm und das darin enthaltene Erfolgsrezept, um wieder auf die Beine zu kommen.
In Bad Godesberg gab sich die SPD vor 60 Jahren ein neues Grundsatzprogramm, das nicht nur „auf der Höhe der Zeit“ (Willy Brandt) war, sondern grundlegende Weichen neu stellte: Erstens bekannte sich die SPD eindeutig zur sozialen Marktwirtschaft und trennte sich von ihrer marxistischen Programmatik. Zweitens bedeutete Godesberg die Öffnung für neue gesellschaftliche Gruppen. Die SPD schmiedete ein Bündnis zwischen dem aufgeklärten Bürgertum und der Arbeiterklasse. Als „linke Volkspartei“ bot sie allen eine politische Plattform, die ebenfalls die verkrusteten Strukturen der Adenauer-Ära aufbrechen wollten.
Das dritte Vermächtnis von Godesberg ist der unbedingte Wille, die SPD regierungsfähig zu machen und das Land aktiv zu gestalten. Das war nichts anderes als der Wille zur Macht. Das Godesberger Programm war die Basis für eine sozialdemokratische Ära und drei erfolgreiche Kanzlerschaften von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder. Sie hatten dasselbe Erfolgsrezept: Ihnen gelang es, sehr unterschiedliche Milieus anzusprechen. Die Kassiererin im Supermarkt, der Bauarbeiter, aber auch Angestellte und Beamte wählten die SPD.
Heute ist dieses Wählerbündnis zerbrochen. Die SPD steckt in der tiefsten Krise ihrer Nachkriegsgeschichte. Bei den Wahlen zum Bundestag und Europaparlament erzielte die SPD die schlechtesten Ergebnisse seit 1949. Sie droht ihren Status als „linke Volkspartei“ zu verlieren.
Warum ist die SPD heute so angeschlagen? Die Krisenphänomene sind vielfältig und nicht allein, wie viele meinen, auf die großen Koalitionen zurückzuführen. Zehn Jahre in der großen Koalition und 17 Regierungsjahre bringen natürlich einen gewissen Verschleiß und eine personelle Auszehrung mit sich. Das ist unübersehbar.
Die Arbeit in Koalitionen ist naturgemäß von Kompromissen geprägt. Obwohl diese Kompromisse den Alltag vieler Menschen besser machen (Mindestlohn, Grundrente, Unterhaltsvorschuss für Alleinerziehende), wird in Teilen der Partei darüber diskutiert, was nicht erreicht wurde. Mit anderen Worten: Das sozialdemokratische Glas ist nie halb voll, sondern immer halb leer.
Oft gleicht die SPD einer autoaggressiven Formation, die sich vorwiegend mit sich selbst beschäftigt und der jedes Selbstvertrauen abhandengekommen ist. Es ist alarmierend, dass die SPD bei ihrer Stammklientel, den Arbeitnehmern, deutliche Verluste erleidet, und auch viele Milieus, die sie in Godesberg gewinnen konnte, mittlerweile abgewandert sind. Die große Mehrheit der Deutschen halten Gerhard Schröders Agenda-Reformen nach wie vor für richtig. Doch statt sich darauf zu konzentrieren, bei den Folgeproblemen der Agenda zügig nachzusteuern und für eine positive Wahrnehmung zu sorgen, kam es zu einer tiefen Spaltung der Partei.
Aber nicht nur in der SPD gab es eine Spaltung, auch in der Gesellschaft hat sich ein tiefer Riss gebildet. Auf der einen Seite stehen die gut situierten, gut ausgebildeten und kosmopolitisch orientierten Teile der Gesellschaft, von denen die SPD viele nach 1968 gewann. In diesen Milieus haben die Grünen die Meinungsführerschaft gewonnen. Auf der anderen Seite stehen jene, die sich abgehängt fühlen, die Globalisierung und Migration skeptisch gegenüberstehen und traditionelle Werte vertreten. Darunter sind viele ehemalige SPD-Stammwähler. Aus dieser Gruppe gingen viele gar nicht mehr zur Wahl, wählten die Linke mit ihren oft realitätsfernen Versprechen oder liefen zur AfD über, die sich als Sprachrohr der Unzufriedenen geriert. Die SPD wird zwischen Grünen und AfD zerrieben.
Was muss geschehen, damit die SPD wieder auf die Beine kommt?
Erstens: Die SPD hat nach wie vor enorme Substanz. Sie stand im Kampf um Demokratie und Freiheit immer auf der richtigen Seite. Unter den über 400.000 Mitgliedern, sind viele gut ausgebildete Menschen, die sich für unser intaktes Gemeinwesen engagieren. Eine gerechte Gesellschaft ist für viele Menschen ohne die SPD nicht denkbar.
Zweitens: Eine Demokratie ist ohne die Bereitschaft, Kompromisse einzugehen und Verantwortung zu übernehmen, kaum denkbar. Deshalb muss die SPD, ihre Fähigkeit, Brücken zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu bauen, wieder in den Vordergrund stellen. Sie muss sich als Partei verstehen, die ihren Platz in der Regierung hat, und nur wenn es nötig ist, in der Opposition.
Drittens: Um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, ist ein überzeugendes Gesamtkonzept in der Einwanderungspolitik nötig. Dieses Konzept muss zugleich realistisch und humanitär sein, damit es von einer breiten Mehrheit akzeptiert werden kann.
Viertens: Es reicht nicht aus, die SPD nach links zu rücken und auf die gerechte Umverteilung zu beschränken. Richtig ist, dass die Sozialdemokratie die Interessen der Arbeitnehmer in den Mittelpunkt stellen muss. Das bedeutet, für eine starke Wirtschaft, für anständige Löhne und für eine gerechte Verteilung des Wohlstandes einzutreten. Gleichzeitig muss sie aber auch für einen handlungsfähigen Staat sorgen, der die Menschen nicht nur vor Kriminalität schützt, sondern auch denen hilft, die ohne eigenes Verschulden ihre Arbeit verloren haben. Nur so kann die SPD das Vertrauen ihrer früheren Wähler zurückgewinnen.
Fünftens: Die SPD muss sich wieder als die Partei des Fortschritts verstehen und mehr Optimismus verbreiten. Digitalisierung und Globalisierung sind nicht nur Gefahren, sie bieten auch Chancen, die man gestalten muss. Die Erfahrung zeigt: Viele soziale und ökologische Probleme lassen sich am besten durch intelligente Innovationen meistern. Die SPD war immer dann erfolgreich, wenn es ihr gelang, Tradition und Fortschritt zusammenzudenken. Eines ist klar: Wer den Fortschritt will, darf die Macht nicht verachten. Godesberg hat der SPD den Weg in die Regierung geebnet. 60 Jahre später darf es keine Flucht aus der Verantwortung geben.