Corona-Lockerungen erwartet : Beschließen Bund und Länder heute den deutschen „Freedom Day“?
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An den Schaufenstern eines Schuhgeschäfts in der Frankfurter Innenstadt sind Hinweise mit der Aufschrift „Zutritt nur mit FFP 2 Mundschutz“ angebracht. Bild: dpa
Die Ministerpräsidenten könnten sich für weitreichende Lockerungen aussprechen und das Robert-Koch-Institut entmachten. Der Expertenrat hat gerade Kriterien für Lockerungen benannt – doch sie werden derzeit nicht erfüllt.
Die Nachbarn im Norden haben es schon getan, die Briten sowieso. Anfang Februar beschloss Dänemark als erstes Land in der Europäischen Union ein Ende fast aller Corona-Maßnahmen mitten in der Omikron-Welle. Das Land folgte dem Vorbild Großbritanniens, das bereits im vergangenen Juli den „Freedom Day“ ausgerufen hatte, den Tag der Freiheit also, ehe im Januar weitere Maßnahmen wie die Maskenpflicht in Innenräumen fielen.
Und Deutschland? Die Rufe nach baldigen Lockerungen der Corona-Maßnahmen waren zuletzt nicht zu überhören – sie kamen denn auch von höchster Stelle. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagte der „Bild“-Zeitung, der Höhepunkt der Omikron-Welle sei nunmehr „überschritten“. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz sank am Mittwoch den vierten Tag in Folge, zuletzt von 1437 auf nunmehr 1401.
Lauterbach sagt, er trägt die Vorschläge „voll mit“
Heute beraten Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs der Länder über das weitere Vorgehen im Kampf gegen Corona. Und wie einer Beschlussvorlage für das Treffen, die den Diskussionsstand von Dienstagabend wiedergibt, zu entnehmen ist, könnten Bund und Länder an diesem Mittwoch weitreichende Lockerungen beschließen, die im äußersten Fall nicht weniger darstellen dürften als den deutschen „Freedom Day“. Sollte die Beschlussvorlage im Wesentlichen so angenommen werden, sollen die Corona-Maßnahmen schrittwiese wegfallen, sodass zum 20. März alle tiefgreifenden Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aufgehoben werden könnten. Auch die Homeoffice-Pflicht soll es dann nicht mehr geben.
Das Datum ist nicht zufällig gewählt. Bis zu diesem Tag ist es den Ländern auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes möglich, Corona-Maßnahmen zu beschließen – sollten sie dies danach noch beabsichtigen, müsste der Bundestag das Gesetz entsprechend ändern. Allerdings haben bereits mehrere Bundesländer signalisiert, dass sie durchaus gerne weiterhin in der Lage wären, ihre Bürger vor dem Virus zu schützen – bei Bedarf wohlgemerkt, im kommenden Herbst und Winter also, wenn Fachleute annehmen, dass die Zahlen nach einer erwarteten Baisse im Sommer wieder steigen.
Konkret sieht der Beschlussentwurf vor, dass zunächst private Zusammenkünfte für Geimpfte und Genesene wieder in größeren Runden möglich werden, ohne dass die Teilnehmerzahl begrenzt ist. Für Ungeimpfte, die auch nicht von einer Ansteckung genesen sind, gelten die Einschränkungen bis Ende März weiterhin. Alle Personen sollen zudem wieder vollen Zugang zum Einzelhandel haben, ohne dass es weiterer Kontrollen bedarf. Lediglich Masken sollen weiterhin getragen werden.
Vom 4. März an soll dann durchgehend das 3-G-Modell – es umfasst Geimpfte, Genesene und Geteste – den Zugang zur Gastronomie regeln, dasselbe gilt für Hotels. Diskotheken und Clubs, von Bund und Ländern liebevoll als „Tanzlustbarkeiten“ bezeichnet, sollen unter 2-G-Plus-Bedingungen geöffnet sein, also für dreifach Geimpfte oder für doppelt Geimipfte mit aktuellem Test – und auch für Großveranstaltungen sollen die Schwellen der Besucherzahlen hinaufgesetzt werden, ehe dann bis Ende März alle nennenswerten Einschränkungen fallen.
Gesundheitsminister Lauterbach sagte, er trage diese Vorschläge „voll mit", allerdings nur diese. „Mehr aber nicht, um keinen erneuten Anstieg zu riskieren.“ Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) forderte ein abgestimmtes Vorgehen der Bundesländer. „Aus meiner Sicht ist es sehr wichtig, dass wir uns auf bundesweit einheitliche Regelungen verständigen", sagte sie den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Einfache schrittweise Lockerungen halte ich für richtig.“ Allerdings sei Corona „noch nicht vorbei". Auch in Mecklenburg-Vorpommern unterstützt man die Pläne.
Laut der Beschlussvorlage könnte das Robert-Koch-Institut (RKI) in einem wichtigen Punkt an Bedeutung verlieren. Nach dem Streit um das plötzliche Absenken des Genesenenstatus durch die Behörde zieht Gesundheitsminister Lauterbach die Kompetenz offenbar wieder an sich. Bei der Ausgestaltung der entsprechenden Verordnung, so heißt es in dem Entwurf, „entfällt in Hinblick auf die Festlegungen zum Geimpften- und Genesenenstatus die Delegation auf das Paul-Ehrlich-Institut und Robert-Koch-Institut“. Die „Bild“-Zeitung zitierte Lauterbach mit Worten, die sich nicht gerade als Vertrauensbeweis für RKI-Chef Lothar Wieler lesen lassen: „Über tiefgreifende Entscheidungen wie etwa den Genesenenstatus möchte ich selbst und direkt entscheiden. Sonst trage ich die politische Verantwortung für das Handeln anderer.“
Der Satz bleib nicht unwidersprochen. Es könne nicht sein, dass Lauterbach tiefgreifende Entscheidungen wie die Dauer des Genesenenstatus in Zukunft allein treffen wolle, sagte der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), am Mittwoch im Deutschlandfunk. Diese Kompetenz sollte beim Bundesrat liegen. Die Regierung habe durch ihr Handeln Chaos angerichtet. Sepp Müller, der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion um Bundestag, sagte: „Der Schlingerkurs von Karl Lauterbach setzt sich in rasantem Tempo fort.“ Vor einem Monat sei die Verantwortung für die Dauer des Genesenenstatus auf das RKI übertragen worden, nun ändere der Minister dies wieder. „Aber nicht das RKI, sondern das Versäumnis des Gesundheitsministers, die Menschen in unserem Land rechtzeitig zu informieren, war das Problem. Deren Freiheiten wurden über Nacht beschnitten, ohne dass sie sich zuvor darauf einstellen konnten“, kritisierte Müller.
Der Entwurf kommt nicht von ungefähr. Am Wochenende hatte der Corona-Expertenrat der Bundesregierung einstimmig konkrete Bedingungen für mögliche Lockerungen der gegenwärtigen Einschränkungen genannt. „Ein Zurückfahren staatlicher Infektionsschutzmaßnahmen erscheint sinnvoll, sobald ein stabiler Abfall der Hospitalisierung und Intensivneuaufnahmen und -belegung zu verzeichnen ist“, schrieb das Gremium. Wie viele Tage in folge und um jeweils welchen Anteil die Kennzahlen fallen müssen, damit von einem „stabilen Abfall“ gesprochen werden kann, präzisierte der Expertenrat allerdings nicht. Gleichwohl: Sollte ein solches Szenario eintreten, sei eine „besonnene Rücknahme einzelner Infektionsschutzmaßnahmen in den kommenden Wochen“ denkbar. Allerdings warnten die Fachleute Bund und Länder vor überstürztem Handeln. Ein zu frühes Öffnen berge die Gefahr eines abermaligen Anstieges der Krankheitslast.
Bis Dienstagabend waren die Bedingungen der Wissenschaftler für mögliche Lockerungen allerdings nicht erfüllt. Nach Angaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) steigt die Zahl der infizierten Patienten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser sogar kontinuierlich an, anstatt zurückzugehen. Seit Anfang des Monats kletterte die Zahl der Patienten von 2280 auf 2450, zuletzt kamen binnen eines Tages – also von Montag auf Dienstag – 18 Schwerkranke hinzu.
Und auch bei der sogenannten Hospitalisierungsinzidenz lässt sich kein Trend ausmachen, den man guten Gewissens als „stabilen Abfall“ der Zahlen bezeichnen könnte. Der Indikator gibt die Zahl der mit Corona infizierte Krankenhauspatienten wieder, heruntergerechnet auf 100.000 Einwohner und bezogen auf eine Woche. Am Dienstag lag die Inzidenz bei 5,9 bundesweit – nur unwesentlich weniger als am Montag. Zuvor war die Zahl ein paar Tage hintereinander zurückgegangen, allerdings folge der Sinkflug einem konstanten Anstieg der Zahlen, der Mitte Februar begann – die Hospitalisierungsinzidenz veränderte sich zuletzt also mehrfach, in Richtung Entspannung wiesen die Werte nicht durchgehend.
Einzelne Bundesländer hat das nicht davon abgehalten, bereits vor der Ministerpräsidentenkonferenz eigene Regelungen zu treffen. In Bayern hat das Kabinett am Dienstag beschlossen, dass Kontaktbeschränkungen für Geimpfte und Genesene bereits von Donnerstag an komplett entfallen. Geimpfte und Genesene brauchen im Freistaat dann auch nirgendwo mehr einen zusätzlichen Test. Und zu einigen weiteren Bereichen des öffentlichen Lebens, etwa Hochschulen und Museen, haben Ungeimpfte auch wieder Zugang, wenn sie einen aktuellen negativen Test vorlegen. „Wir können heute feststellen, dass der Höhepunkt wohl von Corona erreicht ist“, sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Anders als dem Expertenrat der Bundesregierung reichen Söder stabile Krankenhaus-Zahlen, um frühzeitige Öffnungen zu begründen.
Auch in Mecklenburg-Vorpommern hat das Kabinett vor der Bund-Länder-Runde bereits Fakten geschaffen: Die Maskenpflicht im Unterricht soll zum 7. März fallen. In Hamburg soll die coronabedingte Sperrstunde in der Gastronomie zum Wochenende beendet werden. Zudem will der rot-grüne Senat die Kontaktbeschränkungen lockern.