Recep Tayyip Erdogan : Der Spalter vom Bosporus
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Aleviten gehen massenhaft auf die Straße
Doch nicht nur die Anhänger Erdogans, auch seine Gegner sind selbstbewusster geworden. Allen voran die Alevitische Gemeinde. Gäbe es Erdogan nicht, müssten sie ihn erfinden. Denn niemand schafft es, die Mitglieder des Verbandes so sehr zu mobilisieren wie der Ministerpräsident. 2012 haben mehr als 20000 Aleviten in Bochum gegen Erdogan demonstriert, im vorigen Jahr waren es laut Polizeiangaben mehr als 30000 in Köln. Und am Samstag gingen ebenfalls 30000 Menschen in Köln auf die Straße, um gegen den Auftritt Erdogans zu protestieren.
Zwei Tage vor der Demonstration sitzt Ali Onur Firat in seinem Büro in der Alevitischen Gemeinde in Berlin und versucht, noch einen Reisebus nach Köln zu organisieren. Firat gehört dem Vorstand der Gemeinde an. Die acht Busse, die er gebucht hat, sind schon voll. Ständig klingelt sein Handy. Die Leute wollen wissen, ob sie mit nach Köln dürfen. Dass der ganze Trip mehr als 24 Stunden dauert und nicht sonderlich bequem sein dürfte, nehmen sie in Kauf. Aber warum? „Jeder von uns hat Verwandte in der Türkei“, sagt Firat. Er erzählt von einem Cousin, der gezwungen werde, in der Schule den Religionsunterricht zu besuchen, wo nur der sunnitische Islam gelehrt wird. Und von einem anderen Cousin, der seinen Job verlor, weil er Alevit ist. Auch unter den Toten der Gezi-Krawalle seien viele Aleviten gewesen.
Erdogan provoziert die Gemeinde zusätzlich. Neulich hat er von einer Gruppe von „atheistischen Aleviten in Deutschland“ gesprochen. Und er hat dafür gesorgt, dass die dritte Brücke über dem Bosporus nach Sultan Selim I. benannt wird, der im 16. Jahrhundert zehntausende Aleviten töten ließ. Firat sagt, Erdogan sei in der Gemeinde ständig Thema. Egal, ob gerade ein Deutschland-Besuch anstehe oder nicht.
Erdogan ist „Putin light“
Viele Erdogan-Gegner reagieren auch deshalb so vehement, weil sie zunächst viele Hoffnungen in Erdogan gesetzt hatten. So auch Serap Güler. Sie sitzt seit zwei Jahren für die CDU im Landtag in Nordrhein-Westfalen. Früher fand sie vieles gut, was Erdogan tat. Die Annäherung an Europa, die Bewegung im Kurdenkonflikt. Vor sechs Jahren traf sie ihn bei einer Veranstaltung in Istanbul. Sie war damals eine kleine Referentin im kleinen Integrationsministerium in Nordrhein-Westfalen. Fünf Minuten brauchte Erdogan, um sie für sich einzunehmen. „Er gibt seinem Gegenüber das Gefühl, dass er in dem Moment das Wichtigste ist“, erzählt Güler. Erdogan sagte ihr, wie stolz er sei, dass junge Türken in deutschen Ministerien arbeiteten. Er ließ seinen Charme spielen.
Im selben Jahr hielt Erdogan seine vielbeachtete Rede in Köln. Er bezeichnete Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, forderte seine Anhänger aber auch auf, sich in Deutschland einzubringen und die deutsche Sprache zu lernen. Güler hatte nicht das Gefühl, dass Erdogan eine Brandrede gehalten hatte. Seinen Auftritt in Davos fand Güler dagegen bizarr. Grundlegend verändert hat sich ihre Sicht aber erst mit den Gezi-Protesten. Jeder verantwortungsvolle Politiker wäre auf die Demonstranten zugegangen, sagt Güler. Stattdessen beschimpfte Erdogan die jungen Menschen und ließ die Polizei mit massiver Gewalt vorgehen. „Er ist Putin light“, sagt Güler jetzt über ihn. Anders als die SPD-Abgeordnete Cansel Kiziltepe versucht Güler nicht, Konflikte mit AKP-Anhängern zu vermeiden. Neulich habe sie sich auf einer Party mit einem jungen türkischstämmigen Mann gestritten, erzählt sie. Er hatte ausführlich von Erdogan geschwärmt. Güler platzte der Kragen. Sie fragte: „Und wieso entscheidest du dich dann nicht, in der Türkei zu leben?“